Filipe Carvalho
Der ›Homo sapiens‹, dieser aufgerichtete Zweibeiner unter der unerträglichen Leichtigkeit des Seins, lebt angekettet an die philosophische Illusion, die ihm sowohl die Würde als auch das Elend der Wahl zuschreibt. Es sei eine göttliche Gnade, verkünden die Theologen seit Augustinus von Hippo, für den das Böse die Abwesenheit des Guten und die Frucht eines schlechten Gebrauchs des Willens ist. Ein Geschenk, heißt es, das uns von der reinen Mechanik des Steins entfernt und uns auf die Stufe moralischer Verantwortung erhebt.
Doch welch‘ perverse Architektur ist dies, die uns mit Freiheit ausstattet, um unweigerlich in die Abscheulichkeit zu fallen? Das Böse ist kein Fehler im Betriebssystem der Schöpfung; es ist ihr stabilstes und paradoxerweise prägendstes Merkmal unserer sogenannten „Freiheit“.
Gehen wir zurück zum Buch Genesis. Das Verbot – der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse – war kein Test für blinden Gehorsam, sondern die Einführung der Zweideutigkeit. Zuvor gab es nur die Unschuld des Paradieses; danach kam das Bewußtsein, das Wissen, daß sich der Weg gabelt, daß das „Ja” das „Nein” impliziert. Und die Schlange, dieses Tier, das schlauer war als alle anderen Tiere auf dem Feld, brachte nicht das Böse; sie brachte vielmehr die Möglichkeit, diesen Schlüssel, der die Tür zum Kerker des Willens öffnet.
Kain, der erste Brudermörder, wählte das Böse in einer seiner rohesten Formen: den Neid. Und was sagt ihm der „Herr” in jener biblischen Passage von gewaltiger und furchterregender Klarheit? „Wenn du Gutes tust, wirst du nicht angenommen? Und wenn du nicht Gutes tust, liegt die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber sollst über sie herrschen.“ (Genesis 4,7). Das Böse liegt vor der Tür, unsere Natur ist verdorben, und doch bleibt der Stachel des freien Willens bestehen – in einer fortwährenden, ironischen Aufforderung.
Der freie Wille angesichts des Bösen ist der Kern des Theodizee-Problems: Wie läßt sich die Allmacht, Allwissenheit und Allgüte Gottes mit der Existenz des Bösen in der Welt vereinbaren? Leibniz versuchte, „das alles“ zu rechtfertigen, indem er erklärte, wir lebten in der „besten aller möglichen Welten“. Aber nein – es ist nicht die beste aller Welten. Es ist lediglich die Welt, die ist, und das Böse scheint die einzige Konstante zu sein, die die Zeit weder abnutzt noch verdirbt.
Wenn Gott uns nach seinem Plan erschuf, wohlwissend – mit seinem ewigen Blick –, daß wir das Schlechte wählen würden, dann wird der freie Wille zum sarkastischsten aller Geschenke. Wir sind nicht frei, gut zu sein; wir sind nur frei, zu wählen, wie wenig schlecht wir sein werden.
Der moderne Mensch, Erbe Kierkegaards und Sartres, lebt in der Angst vor seiner Freiheit. Wir sind dazu verdammt, frei zu sein, und in diesem Schwindelgefühl etabliert sich die Zweideutigkeit als einzig möglicher Aufenthaltsort. Es gibt kein Gut und Böse als absolute Kategorien, die durch eine unüberwindbare Mauer voneinander getrennt sind. Die wohlwollendste Handlung kann böse Folgen haben, und der ehrlichste Fehler kann als grausame Gräueltat interpretiert werden.
Wenn das Böse in seiner metaphysischen Wurzel die Wahl des Schlechten zum Nachteil des Guten ist (wie Augustinus es definierte), dann ist der deregulierte Markt sein fruchtbarster Boden. Der wilde Liberalismus, diese als moralisches Dogma getarnte Wirtschaftsdoktrin, ist nichts anderes als die groteske Übertragung des individuellen freien Willens auf die Sphäre des Marktes.
Das liberale System verwandelt moralische Ambiguität in die ökonomische Gewißheit, daß Wettbewerb grundlegend sei, daß Reichtum immer verdienstvoll und Armut stets ein Versagen sei. Das menschliche Schwanken zwischen Egoismus und Mitgefühl wird von der bedrückenden Gewißheit des Homo economicus zermalmt – eines eindimensionalen Wesens, das ausschließlich durch die Maximierung seines Nutzens und seines Gewinns getrieben wird.
Die liberale Gesellschaft erhebt Konkurrenz zum absoluten Gut und Armut zum Beweis eines falsch ausgeübten freien Willens. Ein System, das Ausbeutung, Ressourcenverschwendung und grenzenlose Anhäufung billigt und anpreist, ist in Wahrheit das öffentliche Eingeständnis, daß wir unser eigenes Verderben nicht verhindert haben.
Das tempus edax rerum (die Zeit, die alles verschlingt) ist auch unser letzter Richter. Nicht der Chronos der Wiederholung, sondern der Kairos des günstigen Moments und der Entscheidung.
Es bleibt uns die unerträgliche Sehnsucht – nicht nach einer goldenen Vergangenheit, sondern nach einem Zustand vor dem Bewußtsein der Freiheit. Eine metaphysische Sehnsucht nach dem Nichtsein, nach der Stille des Willens, wo die Zeit nicht im rasenden Rhythmus von Schulden und Profit verging. Diese Sehnsucht ist die einzige ehrliche Antwort auf die Tragödie, daß wir dazu verdammt sind, frei zu sein in einer Welt, in der Freiheit nur unsere Verwundbarkeit bedeutet.
Das menschliche Leben, einst unermeßlich, ist nun vollständig quantifizierbar. Sein Wert liegt nicht in der inneren Würde oder in spirituellen Errungenschaften, sondern in seiner Fähigkeit, Daten und Produktivitätsimpulse in der Beziehung zwischen Aktiva und Passiva zu generieren. Unsere eigene Existenz ist eine Punktzahl, eine Bewertung, eine Zeile in einer gigantischen Tabelle mit unzähligen Variablen.
Wir werden ständig bombardiert mit Erzählungen von „Erfolg“ und „Glück“, stets verknüpft mit Erwerb und Zurschaustellung. Die Konsumgesellschaft, Motor des heimtückischen Liberalismus, verkauft uns keine Produkte; sie verkauft uns die Illusion von Vollständigkeit, Bedeutung und Zugehörigkeit – all das, was uns das System selbst zuerst geraubt hat.
Die Zeit des Individuums ist vorbei; Menschen sind nun, und für immer, Zahlen. Dies ist der endgültige Sieg des zermalmenden Liberalismus: die Unterwerfung unter die Gesetze der Wirtschaft und der Märkte, verbunden mit der Entweihung des menschlichen Wesens selbst.
Lehnen wir dieses „Urteil” ab! Wir sind keine Zahlen und keine bloßen algorithmischen Rückstände. Möge unser Kampf die Bestätigung sein, daß Mitgefühl – jenes, das Schopenhauer als einzigen Fluchtweg aus dem Willen sah – stärker sei als Gier.
Lehnen wir den Fatalismus ab und steigen wir aus unserem numerischen Grab empor. Verabscheuen wir die Perversität „der Ziele”, die uns dazu verdammen, still zu sterben, wenn wir sie nicht erreichen.
Die Rebellion ist der einzige Akt des freien Willens, der uns noch bleibt.
Quelle: https://filipecarvalhotextos.blogspot.com/2025/11/liberalismo-liberdade-ou-maldade.html
Vom konsequenzlosen Idealismus zur Mobilisierung der Verschwörung
