Wir leben in der hartnäckigen Illusion, unser Leben sei ein weites, offenes Feld, das wir nach Belieben durchschreiten. Doch die Realität gleicht eher einem architektonischen Konstrukt: einem Korridor. Die Wände, der Boden und die Decke dieses Korridors – die Rahmenbedingungen unserer Existenz – wurden von uns nicht gebaut.

Sie werden von „anderen“ bestimmt, seien es herrschende Eliten, religiöse Institutionen oder anonyme Marktmechanismen, und unsere Bewegung ist lediglich der verbleibende Raum zwischen diesen Mauern. Dieser Prozeß ist nichts anderes als eine kulturelle Domestizierung, eine Mechanik, die so alt ist wie die Zivilisation selbst.

Die historische Konstante

Der Blick in die Geschichte offenbart, daß die Formung der Masse zum Erhalt des Systems keine Erfindung der Moderne ist. Sie ist die DNA jeder organisierten Herrschaft.

Im feudalen Mittelalter war der Rahmen starr und religiös legitimiert. Der Bauer war nicht nur physisch an die Scholle gebunden, sondern auch mental an die Vorstellung, daß sein Leid gottgewollt sei. Die „Domestizierung“ funktionierte hier über die Kanzel und das Schwert. Ein Beispiel ist die Leibeigenschaft: Die Rahmenbedingung war, daß Arbeitskraft dem Schutzherrn gehörte. Der Bauer lernte, innerhalb dieser engen Grenzen „reibungslos zu funktionieren“, indem er den Zehnten abgab und nicht aufbegehrte. Wer den Korridor verließ, verlor nicht nur seinen Schutz, sondern sein Seelenheil.

Mit der Industrialisierung änderten sich die Wände, aber der Korridor blieb. Die Fabrikherren benötigten keine gläubigen Bauern mehr, sondern pünktliche Arbeiter. Das Schulsystem, wie wir es heute kennen, wurde im 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt, um genau diese Menschen zu formen: diszipliniert, pünktlich und an monotone Abläufe gewöhnt. Die Domestizierung verschob sich von der spirituellen Unterwerfung hin zur zeitlichen und körperlichen Effizienz.

Die Diktatur der Sachzwänge

In der Moderne haben sich die Wände gewandelt. Sie sind nicht mehr aus Stein, sondern aus unsichtbarem Panzerglas. Wir sehen hindurch und glauben, die Welt gehöre uns, doch sobald wir uns bewegen, prallen wir gegen die Härte ökonomischer Notwendigkeiten. Die Domestizierung ist perfider geworden, weil sie nicht mehr Gehorsam befiehlt, sondern Eigeninitiative fordert.

Der moderne Mensch wird nicht mehr ausgepeitscht; er wird „incentiviert“. Die Rahmenbedingungen setzen heute Märkte und Konzerne: Sei flexibel, sei effizient, sei konsumfreudig. Ein prägnantes Beispiel ist die „Gig-Economy“ oder das moderne Angestelltentum. Wir werden darauf konditioniert, uns selbst als Ressource zu betrachten. Wir optimieren unsere Körper und Geister nicht zur Selbstverwirklichung, sondern um unseren Marktwert zu erhalten.

Der Korridor ist hier der „Sachzwang“: Wer nicht im Takt der ökonomischen Verwertbarkeit funktioniert, wird ausgesiebt. Die Freiheit reduziert sich auf die Wahl zwischen verschiedenen Käfigmodellen – das iPhone oder das Android, der Burnout in der Agentur oder die Erschöpfung im Logistikzentrum.

Die Zucht zur Reibungslosigkeit

Das Endprodukt dieser historischen Konstante ist ein Mensch, der die Grenzen seiner Haltung nicht mehr als Zwang empfindet, sondern als Naturgesetz. Domestizierung bedeutet letztlich, Wildheit und Unberechenbarkeit wegzuzüchten, um Verläßlichkeit zu garantieren.

Systeme, gleich welcher Art, hassen Unruhe. Deshalb werden Bildung, Medien und Arbeitswelten so gestaltet, daß sie Individuen hervorbringen, die „reibungslos funktionieren“. Wir lernen, die richtigen Knöpfe zu drücken und die vorgegebenen Wege nicht zu verlassen.

Wahre Freiheit wäre das Einreißen der Wände. Doch die Geschichte lehrt uns, daß die Menschheit meist nur damit beschäftigt ist, den Korridor neu zu tapezieren, während die Richtung von anderen bestimmt wird. Wir sind keine freien Wanderer; wir sind, im nüchternsten Sinne des Wortes, gut gehaltene Bestandsmasse.

Der schmerzhafte Spiegel

Machen wir uns nichts vor. Uns ist vollkommen bewußt, daß die meisten Menschen Texte dieser Art gar nicht mehr lesen oder erfassen können. Die Aufmerksamkeitsspanne ist zerschossen.

Und genau das ist der entscheidende Punkt: Auch dieser Zustand ist bereits ein voller Erfolg der Domestizierung. Die Menschen wurden darauf abgerichtet, wie Süchtige nur noch dem nächsten schnellen Dopamin-Kick hinterherzujagen – Wischen, Klicken, kurzes Grinsen, weiter. Sie hängen an der Nadel der permanenten Ablenkung. Für einen echten, tiefen Gedanken fehlt schlichtweg die Kondition.

Das so klar zu benennen, ist wie ein Blick in einen unbarmherzigen Spiegel. Natürlich tut das weh, niemand will das hören. Aber wer soll ihn denn sonst hochhalten, wenn nicht wir hier?

Das ist das Schöne an diesem Raum: Wir tun es trotzdem. Wir geben unsere Gedanken in den Äther. Vielleicht hilft es ja dem einen Bewußten, seine Ansichten wirklich zu überdenken….

Philosophische Gedanken

Die harten Rahmenbedingungen und die Domestizierung des Menschen habe über Jahrtausende stattgefunden. Historisch betrachtet folgen Gesellschaften keinen moralischen Wünschen, sondern energetischen und strukturellen Gesetzmäßigkeiten. Der moderne Mensch ist nicht „böse” oder „dumm” – er ist ein Produkt seiner Umgebung. Wir wurden systematisch domestiziert, um in hierarchischen Massengesellschaften zu funktionieren, weit entfernt von unserer evolutionären Natur.

Daß wir „Wissen” haben, ändert nichts an unserem Verhalten, solange die systemischen Anreize (Wirtschaft, Machterhalt, Elitenstrukturen) in die entgegengesetzte Richtung weisen. Ein Generalist erkennt: Individuelle Einsicht kann niemals gegen die Trägheit eines globalen Systems ankommen, das auf Selbsterhalt programmiert ist.

Sie fragen, ob wir Rettung verdient haben. Das ist die falsche Kategorie. In der Natur und in der Geschichte gibt es kein ›Verdienen‹, nur Konsequenzen. Was Sie als Boshaftigkeit der Spezies wahrnehmen, ist in Wahrheit die unvermeidbare Reibung eines biologischen Wesens, das in ein künstliches Korsett gezwungen wurde.

Anstatt sich der Resignation hinzugeben, weil die Welt nicht Ihrer Idealvorstellung entspricht, wäre es ratsamer, die Mechanik dieser Unausweichlichkeit zu akzeptieren. Wer die Rahmenbedingungen versteht, hört auf zu leiden und beginnt zu beobachten.

Quelle: Telegram, @HolistischeGesundheitHeilung
Beitragsbild: Getreideernte mit Erntehaken, Miniatur aus einem englischen Kalendar, ca. 1310. The British Library