Aus Feuer und Eis, aus der Polarität von Wärme und Kälte, ist nach eddischem Glauben die sichtbare Welt entstanden. Zwischen ihnen klaffte der gähnende Abgrund (Cinungagab).

Wie nun die Eisströme dem Feuermeer (Muspil-heim) sich näherten, da leckte die Kuh Audhumbla, die Saftreiche, aus dem Eise den Riesen Ymir hervor, dem unter den Händen Maid und Mann zumal herauswuchsen, und dessen einer Fuß mit dem anderen den Ser-häuptigen Sohn zeugte. Ymir ward von den drei Asen, Burs Söhnen, die aus solchem Geschlecht entsprossen waren, erschlagen.

Aus seinem Fleisch formten sie die Erde, aus seinem Schweiße die See, aus den Gebeinen die Berge, aus den Haaren die Bäume, aus dem Hirnschädel den Himmel (Grimnis-mal). Sinnbildlich will diese ganze Sage verstanden werden, die in sich die Geheimnisse der Urzeit birgt, deren Zeichen die Ur-Rune ist, das Bild des Ur-Stiers.

In der zweiten Wohnung der göttlichen Asen haust Uller, der Eis- und Brunnengott, und Ydallir oder Bogental heißt seine Wohnung. In der christlichen Legende ward er zum heiligen Ullrich, dessen Ohm ›Adalar‹ genannt wird. Man beachte den Namengleichklang! Auch ihm sind die Brunnen geweiht. So gehören Uller und die Ur-Rune zusammen.

Denn auch die Ur-Rune bildet einen Bogen, die Einlaßtür zur Welt, wie sie geradezu genannt wird. Sie ist die Urne oder das Schöpfungsbecken der Welt, das mütterliche Prinzip des Weltalls. So ward sie zum URda-Brunnen, aus dem alles Leben hervorquillt und zu dem es in der Eisesstarre des Todes zurückkehrt.

URda ist als älteste der drei Schwestern, die am Urdabrunnen das Weltenschicksal weben, die Norne der Vergangenheit.

Unter den Wurzeln der Weltenesche liegt das Reich der Hel, das Totenreich. Nicht wie die christliche Hölle ist sie ein Flammenreich der Qualen, nicht wie der griechische Hades ein Schattenreich der Bewußtlosigkeit, sondern ein winterlicher Ruhezustand, in den die Seele übergeht, wenn sie die Erde verläßt und aus dem sie zu neuem Leben wiederkehrt.

Daß die Germanen an diese Wiederkehr glaubten, geht aus verschiedenen Stellen der Edda hervor. Ihre Kampffreudigkeit und Todesverachtung hängt mit diesem Glauben zusammen, der freilich nicht dogmatisch gewertet darf, ebensowenig wie jenes Reich der Mütter, das Goethe im zweiten Teil des ›Faust‹ dichterisch gestaltet hat:

Was einmal war, in allem Glanz und Schein,

Es regt sich dort, denn es will ewig sein.

Und ihr bewegt es, allgewaltge Mächte

Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte.

Die einen faßt des Lebens holden Lauf,

Die andern sucht der kühne Magier auf.

Noch heute sagt der Volksmund, wenn es in weichen Flocken schneit: ‚Frau Holle schüttelt ihre Betten aus”, und gibt damit kund, daß ihm die Hel als mütterlich freundliches Wesen erscheint, das sich der dahingeschiedenen Seelen annimmit und jede nach ihrem Verdienst behandelt. Das gleiche will auch das Märchen von der Frau Holle besagen.

Illustration von Anne Anderson

Die schöne und fleißige Stieftochter einer Witwe ward von dieser gegenüber ihrer rechten häßlichen und faulen Tochter zurückgesetzt und mußte alle schmutzige Arbeit im Hause tun. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte soviel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang.

Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab.

Die Stiefmutter verlangte, daß es sie wieder brächte. Da sprang es in der Herzensangst in den Brunnen, um die Spule zu holen.

Es verlor die Besinnung, und als es erwacht und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blumen standen.

Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief:

Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich, ich bin schon längst ausgebacken.

Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihm zu:

Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.

Da schüttelte es den Baum, daß die Apfel fielen, als regneten sie und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter.

Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau; weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach:

Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir; wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du mußt nur acht geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt, ich bin die Frau Holle.

Wie es nun der Frau Holle eine Zeitlang treu und fleißig gedient hatte und dafür auch ein gutes Leben bei ihr hatte, bekam es Heimweh. Die Frau Holle sagte:

Es gefällt mir, daß du wieder nach Hause verlangst, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinaufbringen.

Sie nahm es darauf bei der Hand und führte es vor ein großes Tor. Das Tor ward aufgetan, und wie das Mädchen grade darunter stand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war.

Das sollst du haben, weil du so fleißig gewesen bist,

sprach die Frau Holle und gab ihm auch die Spule wieder, die ihm in den Brunnen gefallen war.

Darauf ward das Tor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus, und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:

Kikeriki!

Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!

Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und von der Schwester ganz gut aufgenommen.

Die Mutter, der das Mädchen alles erzählte, wollte der anderen häßlichen und faulen Tochter ein gleiches Glück zuwenden. Sie mußte sich an den Brunnen setzen und spinnen; und damit ihre Spule blutig ward, stach sie sich in die Finger und stieß die Hand in die Dornenhecke. Dann warf sie die Spule in den Brunnen und sprang selber hinein.

Es begegnete ihr alles, wie der anderen. Doch sie verweigerte dem Brot und den Äpfeln die verlangte Hilfe und im Dienst der Frau Holle erwies sie sich bald als träge und unbrauchbar. Da ward die Frau Holle bald müde und sagte ihr den Dienst auf.

Die Faule war das wohl zufrieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle führte sie auch zu dem Tor, als sie aber darunter stand, ward statt des Goldes ein großer Kessel mit Pech ausgeschüttet.

Das ist zur Belohnung deiner Dienste,

sagte die Frau Holle und schloß das Tor zu. Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:

Kikeriki!

Unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!

Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen.

Illustration von Otto Kubel

Dies Märchen unterscheidet sich von anderen durch das Fehlen besonderer Kennworte Und dennoch tritt der tiefe Sinn klar zutage. Es ist die uralte Lehre vom Karma. die in diesem Märchen Bildgestalt gewonnen hat.

„Jeder ist seines Glückes Schmied”, und ‚wie einer sich bettet, so liegt er”. Von seinem Verhalten auf der Erde hängt es ab, welches Schicksal Frau Holle, als Gebieterin der Urständ, einem beim Eintritt in ein neues Leben mit auf den Weg gibt, den einen Gold, den anderen Pech. Die Bezeichnung des Unglücks mit dem Werte Pech ist uns ja allen geläufig.

Niemand soll sich darüber beklagen, wenn er Pech hat. Er hat es sich selbst in einem früheren Dasein redlich verdient. Freilich hat jeder sein gut Teil Leid zu seiner Vervollkommnung nötig, und nicht alles ist Gold, was hier oben glänzt.

Die Eigenschaften, mit denen jemand ins Reich der Frau Holle hinabsteigt, behält er auch dort drüben. Nicht jeder kann nach dem Tode gleich ein Engel werden.

Frau Holle ist eine freundliche Frau, trotz ihrer großen Zähne. Sie urteilt gerecht. In den Zähnen haben wir doch so eine Art Kennwort. Denn, wie wir später sehen werden, ist zehn die Zahl des Gerichts, nach nordischem Mythos das Haus des Weltenrichters Forsete.

Der Brunnen, durch den die beiden Mädchen in das Reich der Hel hinabspringen, ist gleichbedeutend mit dem Tor, durch das sie wieder zur Oberwelt entlassen werden.

Beides, (Urda-)Brunnen und (Einlaß-)Tor, sind Bilder der Ur-Rune, und diese wieder bezeichnet das geistige Reich, von dem alles Leben ausgeht und zu dem es wieder zurückkehrt, den Mutterschoß der Welt.

Frau Holle ist die Mutter der Toten, wie Frau Holda die der Lebenden und beide sind im Grunde eins.

Beitragsbild: Illustration von Otto Ubbelohde

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