Werner von Bülow

 

Das Märchen vom Gänsemädchen ist vielleicht das herrlichste von allen. Ich setze es in Odins Zeichen, die O oder Othala-Rune. Hierzu bestimmt mich der neckische Zaubervers, mit dem das Mädchen den Wind beschwört, daß er Kürtchens Hut wegnehmen soll, damit er sie nicht beim Machen ihres Goldhaars störe:

Wehe, wehe Windchen,
Nimm Kürtchen sein Hütchen
Und laß ihn sich mit jagen,
Bis ich mich geflochten und geschnatzt
Und es wieder aufgesatzt.

Denn dieser Wind ist der Geistesodem des göttlichen Geistes. Und die ganze Erzählung dreht sich darum, daß die menschliche Seele die allmählich sich verlierende Fühlung mit der göttlich geistigen Welt wieder gewinnt.

 

Freilich wächst dies Märchen bei der Bedeutung, die das redende Haupt des getöteten Rosses für den Gang der Handlung hat, über den Rahmen eines einzelnen Runenzeichens weit hinaus. Nach dem St. Gallener ABC ist RA—OS (Roß und Rose), UU=W geschrieben, das vereinigte Zeichen der fünften Rune RA und der vierten Rune OS. Beide Zeichen ergeben den Buchstaben W, entsprechend den beiden Druidenfüßen, ein Bild der Weihe, der Einweihung.

Schon die Römer nannten es sub rosa, unter der Rose einem etwas mitteilen, wenn jemandem ein Geheimnis offenbart wurde. Daß von diesem RA-OS sowohl die Geheimbrüderschaft der Rosenkreuzer, wie die Fehmrose ihren Namen hat, beweist die weite Verbreitung dieses Sinnbildes.

Wir werden im achten Zeichen, bei der Heimdaller-Sage, im Märchen vom Machandelbaum, noch etwas über das redende Haupt erfahren. Die Vorstellung, daß Rosse reden, den Willen der Götter verkünden, ist bei den Germanen durch Tacitus bezeugt. Sie stammt aber schon aus vorgermanischer Zeit.

Der Grieche Homer berichtet in seiner Ilias von redenden Rossen, die bezeichnenderweise dem Diomedes, dem Gottesmittler gehören. Aber auch in Indien, wo die Götter in Menschengestalt erscheinen und das Roßopfer (Açya-medha) gefeiert wurde, begegnen wir ähnlichen Vorstellungen. Der Name des Rosses in unserm Märchen Falada —Veleda — Seherin weist nachdrücklich auf diesen Zusammenhang hin.

Fassen wir, ehe wir das Märchen selbst reden lassen, einmal die Überschrift des Märchens ›Gänsemädchen‹ und den Namen ihres Gefährten Kurt ins Auge, so wird uns bald der ganze tiefe Sinn des Märchens aufgehen.

Die Gans, in der Tierfabel Adelheid oder Allheit genannt, ist ein Bild des Alls. Die Magd (MG) deutet auf Macht, Magie. Da nun die Königstochter in den Märchen stets die menschliche Seele bedeutet, worauf schon Philipp Stauff hingewiesen hat, so gibt eigentlich schon die Überschrift den ganzen Inhalt der Erzählung wieder.

Sie stellt das Schicksal einer Königstochter dar, die, von der ungetreuen Magd zum Rollentausch gezwungen, verdrängt und zur Gänsemagd erniedrigt wird, um endlich wieder, nachdem sie alle Prüfungen bestanden hat, zu ihrer ursprünglichen Würde erhoben zu werden.

Die menschliche Seele, vom Schöpfer (Kurt, KRT, creator hropter) als seine Gefährtin zur Hüterin des Alls (Gans) berufen, der die Macht (Magd) über das All gegeben ist, muß, ehe sie so königliche Kunst erlernt, zu ihr heranreift, demütig einen Leidensweg gehen, darf sich durch Prüfungen nicht beirren lassen und die Fühlung mit der göttlichen Kraft, aus der sie hervorgegangen, nimmer verlieren. In allen alten Einweihungen, in Aegypten wie in Indien, wird dieser Weg als Isisweg, als Yoga genau geschildert.

Aber die Seele hat noch einen zweiten Weg hochzukommen, sich zu entwickeln, den unser deutsches Sprichwort in die Lebensregel faßt: „Durch Schaden wird man klug“ und den unser Märchen in der Strafe, die die ungetreue Magd am Schlusse trifft, leise andeutet.

Diese Magd stellt im Gegensatz zur Königstochter die niederen selbstsüchtigen Triebe der Menschenbrust dar. Sie muß sich ihr eigenes Urteil sprechen: Nackend (Geburt und Tod) wird sie in eine von außen mit Nägeln (NG, genus, ink) durchspitzte Tonne (Leiblichkeit) eingeschlossen, um von zwei weißen Rossen (tu wit Ros, nun nach rechtem Wissen, wissend das Rechte tun) Gaß auf, Gaß ab (G. S., dem göttlichen Strahl bald näher kommend, bald sich von ihm entfernend) zu Tode geschleift zu werden.

Die beiden weißen Rosse, als Lenker ihres Schicksals, hätten in diesem Zusammenhange gar keinen Sinn, wenn nur ein Strafvollzug von realistischster Grausamkeit gemeint wäre und nicht der unseren Vorfahren wohlvertraute Glaube an eine Reihe von Wiederverkörperungen.

Dieser zweite Weg ist der längere und schmerzhaftere. Denn der Mensch muß, in seine Leiblichkeit, wie in eine Tonne eingeschlossen, solange die Folgen seiner eigenen Fehler am eigenen Leibe spüren, bis er das Verkehrte seines Tuns erkannt und, zur rechten Einsicht gelangt, selbst rechtschaffen wird.

Betrachten wir den ersten der beiden Wege an der schlichten Erzählung: Eine Königstochter, einem fernen Prinzen versprochen, wird von der liebenden Mutter mit standesgemäßer Ausstattung versehen (von der Vorsehung mit königlichen Gaben ausgestattet), von einer Magd begleitet, auf den Weg gesetzt.

Als köstlichste Gabe empfängt sie von der Mutter ein weißes Läppchen mit drei Tropfen des mütterlichen Blutes zum Talisman als Schutz gegen alle Gefährlichkeiten der Reise mit der Weisung, sie wohl zu verwahren. Ihr Reittier, die edle Stute Falada, kann reden, desgleichen die Dreiheit der Blutstropfen.

Was sind das für wunderliche Sinnbilder: Blutstropfen, die reden, ein Roß, das sprechen kann! Auch in Wolframs (von Eschenbach) Parzival kehrt das Sinnbild der drei Blutstropfen auf weißem Schnee wieder, dort als Mahnung an die Mutter Herzeleide. Auch in unserem Märchen hängen die drei Blutstropfen mit der Mutter der Königstochter zusammen.

Was können sie anders bedeuten, als das im Blute gegebene Bewußtsein der Abstammung der Seele vom dreieinigen göttlichen Urgrund der Welt. Solange in der Seele dieses Bewußtsein lebt, kann ihr nichts Arges begegnen. „Ist das Göttliche mit uns, wer mag wider uns sein?” Aber damit die Seele zur Freiheit der selbstverantwortlichen Seele heranreift, muß sie dies köstliche Gottinnerlichkeitsbewußtsein verlieren. Dies geschah auch der Königstochter.

Da die beiden eine Weile selbander geritten sind, bekam die Königstochter Durst und heischte von der Zofe, sie solle absteigen und ihr aus dem goldenen Becher zu trinken geben. Die Magd verweigerte trotzig diesen Dienst. Die niedere menschliche Natur sagt der höheren den Dienst auf.

Will also die Seele den Durst nach ihrer göttlichen Heimat stillen –– Gold ist allemal das Zeichen des Sonnenlandes, der ursprünglichen göttlichen Reinheit –, so darf sie sich nicht auf ihre niedere Natur verlassen, sondern muß demütig absteigen und sich selbst zum Quell des Lebens niederbeugen. Da entfuhr der Königstochter der Seufzer: „Ach Gott!“ und die drei Blutstropfen antworteten: „Wenn das deine Mutter wüßte, das Herz im Leibe täte ihr zerspringen.“

Aber die Königsbraut war demütig und stieg wieder zu Pferde. Als sie nach etlichen Meilen von neuem dürstete, wiederholte sich das gleiche. Und wie sie so trank und sich über das fließende Wasser recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin die drei Blutstropfen waren, aus dem Busen und floß mit dem Wasser fort.

Die Kammerjungfrau hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Gewalt über die Braut bekam; denn damit, daß diese die drei Blutstropfen verloren hatte, war sie schwach und machtlos geworden. War die Königstochter bei ihrer ersten Prüfung durch das Bewußtsein ihrer göttlichen Abstammung gestärkt worden, so verliert sie jetzt diesen Halt.

Die niederen Triebe gewinnen Gewalt über die Seele und treten die Herrschaft an. Die Magd zwingt sie, von ihrem Pferde abzusteigen, mit ihr das königliche Gewand zu tauschen und magdliche Gestalt anzunehmen. Die niederen Triebe triumphieren. Scheinbar ist der Erfolg auf ihrer Seite. Sie führen zu Macht, Ansehen, äußeren Erfolgen. Aber ›Falada‹ sah das alles an und nahm es wohl in acht.

Wie sie in des Königs Hof eintraten, ward die falsche Braut mit königlichen Ehren empfangen. Die wahre Königstochter mußte unten stehen bleiben. Aber der alte König, der am Fenster stand, ließ sich nicht täuschen. Er sagte: „Da habe ich so einen kleinen Jungen, der hüte die Gänse, dem mag sie helfen!“ Der Junge ist Kürtchen. Welch‘ feine Ironie!

Die Gänse hüten ist bekanntlich eine ganz leichte Arbeit für die Dorfjugend. Wir sahen aber schon, was sich hinter dieser Aufgabe verbirgt. Diesen Kunstgriff gebraucht das Märchen häufig, daß es das Gegenteil von dem ausspricht, was eigentlich gemeint ist. Denn was kann es Höheres geben, als berufen werden zur Hüterin des Alls? 

Wir müssen uns der geheimnisvollen Stute ›Falada‹ zuwenden. Die falsche Braut fürchtete, das redende Roß möge sie verraten und setzte es beim jungen König durch, daß ihm der Hals abgehauen wurde. Die Gänsemagd aber bestach den Schinder und ließ ›Faladas‹ Haupt unter das finstere Tor nageln, wo sie morgens und abends mit den Gänsen durch mußte. Und des Morgens früh sprach sie im Vorbeigehen: „O du Falada, da du hangest.“ Da antwortete der Kopf: „O du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßte, das Herz tät ihr zerspringen.“

Der Seele blieb nach Verlust des unmittelbaren Gottinnerlichkeitsbewußtseins (drei Blutstropfen) der Zugang zur geistigen Welt durch den Mund der Propheten offen. Aber auch dieses Tor wird verriegelt. Weltlicher Sinn fordert das Haupt der unbequemen Mahner, wie die Bibel es von Johannes dem Täufer berichtet, der der Salome zum Opfer fiel.

Auch die griechische Helenasage weist auf diese Zusammenhänge hin. Dem Führer des Volkes ›Menelaos‹ wird von der eitlen selbstgefälligen Persönlichkeit Paris-Bar-Is die Geberin Helena, Velena, Veleda entführt und in das Stammesheiligtum (Trojaburg, heilige Stadt, wie Homer Ilien bezeichnet) gebracht. Auch die Namensverwandtschaft Hektors mit Hagen von Tronje gibt zu denken. – Der dunkle Torweg aber, den alles Lebendige morgens und abends hindurch muß, bezeichnet Geburt und Tod.

Wie nun die Gänseherde auf die Wiese (Wissen) gelangt war, machte das Gänsemädchen die Haare auf, die waren eitel Gold, und Kürtchen sah sie und freute sich, wie sie glänzten und wollte ihr ein paar ausraufen. Da sprach sie wie oben berichtet:

Wehe, wehe Windchen,
Nimm Kürtchen sein Hütchen
Und laß ihn sich mit jagen,
Bis ich mich geflochten und geschnatzt
Und es wieder aufgesatzt.

Kürtchen ärgerte sich und beschwerte sich beim alten König: „Morgens, wenn wir mit der Herde unter dem finsteren Tor durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an der Wand, zu dem redet sie.“ So erzählte er den ganzen Vorgang. Der König überzeugte sich selber von der Richtigkeit der Schilderung und forschte abends die Gänsemagd aus, die die Auskunft verweigerte, dann aber dem Ofen ihr Leid klagte.

Die Seele kann ihrer göttlichen Abstammung (goldene Haare) dann bewußt werden, wenn der göttliche Odem (Wind) die Hülle (Hut) entfernt, unter der sich der Schöpfer hinter der Schöpfung verbirgt (Kurt). Dann werden die Haare geflochten (FL = Lichtschaffen, Erleuchtung), geschnatzt SK, secare (Stutzen der Triebe) und aufgesatzt (Aufbau einer geistigen, sittlichen Lebensordnung durch Satzungen). Nachdem sie so alle Prüfungen bestanden und als treu befunden worden, wird sie in ihre ursprüngliche Würde eingesetzt.

So ist in diesem Märchen jedes Wort und jeder kleine Zug von Bedeutung. In Farben von unzerstörbarer Frische ist von einem großen Künstler ein göttlicher Teppich aus edelsten Stoffen gewoben und geheimnisvoll von goldenen Fäden durchzogen worden.

Gewiß kannte der Dichter das indische Bogenschützenlied (Bagavad Gita) nicht und doch, wie trefflich hat er die gleichen Lehren von den beiden Wegen, die zur Erhöhung führen, in anschaulicher Lebendigkeit zum Ausdruck gebracht.

So möge dieses göttliche deutsche Märchen dem Deutschen helfen, den tiefen und starken Glauben seiner Vorfahren an die göttliche Bestimmung des Menschenlebens wiederzugewinnen. Denn was tot erscheint, wird wieder auferstehen.

Beitragsbild: Holzschnitt von Marianne Finck

Die Geheimsprache der Deutschen Märchen