Werner von Bülow

Märchendeutungen durch Runen

SNEEWITTCHEN

 

oder T, das geheimnisvolle zwölfte Runenzeichen Widars, des schweigsamen Asen, der im immergrünen Weidelande und Wendeheim wohnt, birgt in sich die Geheimnisse eines reinen zweiten ewigen Daseins.


Es ist das Zeichen Hanga-Tyrs, des an die Materie, sich selber opfernd, gebundenen göttlichen Geistes, der wiederauferstehend, zur reinen Geistigkeit zurückkehrt.

Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarge erzählt von der Wiedererweckung der — den drei Versuchungen erlegenen — nur scheintoten Seele.

 

An die zwölfte Stelle in die Tyr-Kunde gehört als echtes Auferstehungsmärchen Schneewittchen.
 Denn auch die Tyr-Rune handelt von der Auferstehung, wie jene Verse aus dem Hávamál beweisen:

Ein zwölftes hab’ ich, hängt am Baum
droben einer erdrosselt;
ritz’ ich es dann mit Runen ein,
herab steigt der Mann und redet mit mir.

Deshalb ist auch das Buchstabenzeichen T jenes Galgenholz, an dem Hanga-Tyr, der hängende Gott, also Odin selber, neun ewige Nächte lang hängt.
 Der eddische Name der Zwölf ist ›töglöd‹, Geheimnis, um anzudeuten, daß die Auferstehung von den Toten den wesentlichen Inhalt der urarischen Geheimlehre ausmacht.

Deshalb heißt auch der zwölfte Gott, der in ›Landvidi‹, dem Wende- und immergrünen Weidelande wohnt, Vidar, der Rächer Wotans am Wolf, der schweigsame Ase.
 Als ›tögl-as‹ und bei den Sachsen ›tegaton‹. In sein Weichbild ließ sich der im Treffen zu Notteln schwer verwundete Sachse Liutpert tragen, um in der Gewißheit der Auferstehung zu sterben.


Aber es gibt nach dieser Lehre zwei Auferstehungen, die eine im geistigen Dasein, deren Zeichen die elfte Rune ›Sol‹ und die Elfzahl sind, und die andere, die erst nach ›Ragnarök‹, dem Weltuntergangstage, kommt, im Zeichen der zwölften Rune Tyr und der Zwölfzahl.


So offenbar liegen die Goldkörner dieser Erkenntnis noch in der deutschen Sprache zutage, aber niemand hebt sie auf.
Niemand denkt darüber nach, weshalb der Deutsche nicht ›einzehn‹ und ›zweizehn‹ weiterzählt, sondern elf (einlif) und zwölf (zuleif, das zweite oder andere Leben).

Deshalb muß auch Schneewittchen im Gegensatz zur Gänsemagd schwarze Haare haben.
 Denn schwarz ist die dunkle Farbe des Geheimnisses.
 Aber daneben ist Schneewittchen auch das Märchen der drei Versuchungen. 
Es erklärt, auf welche Weise der Mensch, die Menschheit dem Tode, dem Dunkel verfallen ist, das Bewußtsein seiner/ihrer Unsterblichkeit verloren hat.
 Im Gegensatz zum Gänsemädchen schimmert bei Schneewittchen der naturmythische Kern noch durch.

Was tut die Natur, wenn sie die Lebenskeime über die böse Schnee- und Winterzeit herüberretten will in hellere, wärmere Tage? Sie umgibt den Keim, die Nuß mit einer harten Schale. Sie schließt ihn in einen gläsernen Sarg ein. Genau so ergeht es auch geistigen Strömungen.

Sie bilden sich eine Formen- und Formelsprache heraus, durch die höchste geistige Werte auch von Unverständigen und Unmündigen weitergegeben werden können, bis ein Geschlecht heranwächst, in dem die Keime sich zur neuen Blüte entfalten mögen. Ein treffliches Beispiel hierfür bilden die deutschen Märchen selber.

Damit ist schon eine Bedeutung des Schneewittchen-Motivs vom Glassarge enthüllt. Schneewittchen birgt das Wissen von der Sonnennatur der Seele (SN). Schneewittchen hat schwarze Haare, schwarz wie Ebenholz, das Gänsemädchen goldene. Der Unterschied ist natürlich nicht rassenmäßig realistisch, sondern sinnbildlich zu verstehen.

Das Ebenholz = Ewen-Holz ist das Stichwort. Nach der Weltalterlehre der Urreligion folgt dem ›goldenen‹ Zeitalter das ›silberne, kupferne und eiserne‹. In diesem, dem Kali-yoga der Inder, befinden wir uns jetzt. Sind sie abgelaufen nach 432.000 Jahren — diese Zahl ist Indien, Persien und der Edda gemeinsam — so soll ihnen das hölzerne Zeitalter folgen. Von diesem singt die Edda: In Widars waldigem Wohnland wächst hohes Gras und Grün.

Die sonstigen Farben Schneewittchens, auch die drei roten Blutstropfen, hat es mit dem Gänsemädchen gemeinsam. Der Unterschied in der Haarfarbe zeigt deutlich, daß das Thema hier ein anderes ist. Nicht auf die Bewahrung des göttlichen Ursprungs (Gold) kommt es an, sondern auf die Wiedererweckung zu jenem zweiten Leben, von dem unsere Zahl Zwölf für Wissende eindringlich genug zu berichten weiß.

Wie im Gänsemagdmärchen die ungetreue Magd, so ist bei Schneewittchen die stolze, eitle, neidische, boshafte Stiefmutter der seelische Gegensatz. Sie befragt ihren Spiegel (Selbstbewußtsein):

Spieglein, Spieglein an der Wand,


Wer ist die Schönste im ganzen Land?

Als ihr die Stieftochter als tausendmal schöner bezeichnet wird, erhält der Jäger den Auftrag, sie zu töten. Der hat Erbarmen, läßt sie laufen, sticht dafür einen Frischling ab und bringt Lunge und Leber der Königin als Wahrzeichen, die sie in Salz kochen läßt und aufißt.

Der Jäger tritt in den Märchen häufiger auf, z. B. im Rotkäppchenmärchen, wo er ebenfalls gut und hilfreich wirkt. Seine Kennlaute sind J und G, also die neunte und achtzehnte Rune: Ich und Gott. Wir gehen daher wohl nicht fehl, wenn wir in ihm den göttlichen Kern im Menschen, den Geistesmenschen, erblicken.

Dieser sticht einen Frischling ab, der schon durch seinen Namen als Sohn (ing) von ›Fro‹ bezeichnet wird. Bekanntlich reitet Fro = Freyr auf einem goldborstigen Eber und wohnt in ›Alfheim‹ im Elfenlande — aus dem sich ja auch unser lieber ›Adebar‹, der Geist-Träger, die kleinen Seelchen holt; denn eben dies meint der Froschteich.

Soll das Geistesmenschentum geboren werden, so muß der kindliche Unschuldszustand verloren gehen. Lunge und Leber des Frischlings verzehrt die Königin. Die Lunge ist das, was dem ›Odem‹ und mit ihm das geistige Bewußtsein (L-ung = Lichtsein) erzeugt. Die Leber hängt mit dem Ernährungsfaktum zusammen und ist ein Bild des organischen Leibeslebens.

Fro (Freyr) mit seinem Eber Gullinborsti, Bildquelle: Metapedia

Vampyrgleich will sich die Königin diese Kräfte der vermeintlich getöteten Stieftochter zu ihrem Heile (Salz) einverleiben und sie gleichzeitig dadurch unschädlich machen. Diese aber hat inzwischen bei den sieben Zwergen Aufnahme gefunden.

Die sieben Zwerge sind natürlich jene sieben Planeten, die sich nach den Lehren der Astrologie und der Handlesekunst im Charakter und im Schicksal der Menschen und in den Linien seiner Hand widerspiegeln. Ich werde versuchen, dies durch die sieben Fragen der Zwerge wahrscheinlich zu machen, wenn ich auch gern zugebe, daß man auch zu einer anderen Auslegung kommen kann.

Der erste fragt: „Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?“ Das ist (St-ul) der urweise Saturn, dem der Mittelfinger geweiht ist.

Der zweite: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ Das ist (TLR) der Teiler, Zwist­erreger, Tuisco, Mars, dem der Handteller geweiht ist.

Der dritte: „Wer hat von meinem Brötchen genommen?“ Das ist (Bar Od) die Sonne als Lebensträger, der dem Ringfinger entspricht.

Der vierte: „Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?“ Das ist (GMS) der Geldmacherstern Merkur, der als „kleinstes Gemüse“ den kleinen Finger beherrscht.

Der fünfte: „Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?“ Das ist (GBL) der freigebige Jupiter, dem der Zeigefinger geweiht ist.

Der sechste: „Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?“ Das ist (MSR) der Zeitmeister Mond, dessen Berg den Ballen zwischen Mars und Daumen beherrscht.

Der siebente: „Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?“ Das ist (BK) Venus, die dem Bacchus stets zugesellt, selber durch das Becken gekennzeichnet wird und die Daumenwurzel beherrscht.

Am Bettlein des siebenten Zwerges, also der Venus, wird das Kind gefunden. Das Mägdlein muß den Zwergen den Haushalt führen und wird von ihnen betreut. Dreimal trachtet die Stiefmutter ihr nach dem Leben, zuerst mit dem atembeklemmenden Schnürriemen, das zweitemal mit einem vergifteten Kamm, zuletzt erfolgreich mit einem vergifteten Apfel.

Zunächst wird der Verstand so in Begriffe eingeschnürt, daß der Seele darüber der Odem ausgeht. Sodann werden dem Willen giftige Keime eines falschen selbstsüchtigen Strebens eingepflanzt, endlich wird das Gefühlsleben, also das eigentliche Element der Seele, durch Sinnentrug verführt.

Allen drei Versuchungen erliegt Schneewittchen. Den letzten Eingriff können auch die hilfreichen Zwerge, die astralischen kosmischen Kräfte, nicht wieder gutmachen. Aber das Mädchen braucht auch nicht zu sterben.
So können die Zwerge dafür sorgen, daß die liebliche Erscheinung, im gläsernen Sarge eingeschlossen, erhalten bleibt. Sie schreiben mit goldenen Buchstaben ihren Namen auf den Sarg und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzen sie den Sarg auf einen Berg, und einer hält immer Wache dabei.

Und die Tiere kommen auch und beweinen Schneewittchen, erst eine Eule, dann ein Rabe, zuletzt ein Täubchen. Die Eule (UL) ist die göttliche Weisheit, der Rabe (RB) das rechte lebendige Denken, das sich in (Hugin) Denken und (Munin) Erinnern spaltet, und die Taube (TB), die dunkle Kraft des Blutes, das organisch-instinktive Unterbewußtsein. Diese drei Denkräfte erhalten das Leben auch in der Erstarrung aufrecht.

Wotan mit Hugin und Munin an der Fassade von Wahnfried, Bildquelle: Wikipedia

Endlich naht ein Königsohn, überredet die Zwerge, daß sie ihm den Sarg schenken. Die Träger stolpern über einen Strauch, der giftige Apfel fällt heraus, die Scheintote erwacht. Die Bosheit ereilt auch hier die Strafe. Die Stiefmutter muß sich auf der Hochzeit in rotglühenden Schuhen zu Tode tanzen.


Der Apfel ist mit Abfall ebenso sprachlich verwandt, wie das lateinische ›malum‹ sowohl Apfel wie Übel bedeutet. Der Apfel ist somit nicht nur in der alttestamentlichen Erzählung mit dem Sündenfall verknüpft, der stets einen erotischen Einschlag hat, sondern bezeichnet mit seiner schönen roten, zum Genuß reizenden, aber vergifteten Hülle die Sinnen-Trugwelt, die die Seele verführt, sich soweit mit der Materie einzulassen, daß sie darüber die geistige Welt vergißt, ihr abstirbt.

Entfährt aber der Apfel dem Munde, wird die Seele von der Gier des Ergreifens befreit, so kann sie wieder zur höheren Welt erwachen und den Königsohn freien. 


Aber der eitle, hochmütige Sinn muß sich in eisernen, rotglühenden Schuhen zu Tode tanzen. Der Taumel der Sinnenwelt richtet zugrunde. Der Schuh wird zum Schuldschuh, dem irdischen Zeichen der Zahl ›Acht‹, der Achtung.

Rotglut ist die astralische Farbe der niederen Leidenschaft. Eisen kennzeichnet die Stiefmutter als Eisenalter. Schwarz-weiß-rot sind auch die Farben des Deutschen Reiches, wie es Bismarck gegründet, des Weltkrieges Sturmfahne, die auf den Meeren noch weiterweht.

So mag denn eine besondere Nutzwendung der drei Versuchungen Schneewittchens auf die deutsche Seele folgen.
 Die Stiefmutter sind alle bösen Fremdkräfte, die die deutsche Seele zugrunde richten wollen.

Tuiscon – aller Deutschen Vater, Bildquelle: Metapedia

Zuerst ward der deutsche Geist in die Schnürriemen fremder Begriffe eingezwängt. Das fing mit römischem Wesen an, setzte sich in judaisierten Glaubenselementen fort und gipfelte in allerhand internationalen Schlag- und Trugworten. Sodann fuhr der scharfe Kamm fremder Willensrichtung uns durch die Haare. Der römische Imperiumsgedanke lenkte den deutschen Willen von seinen eigentlichen Zielen ab.

Die nach Rom fahrenden deutschen Kaiser verurteilten das deutsche Königtum zur Ohnmacht. Das römische Recht unterdrückte die deutsche Freiheit. Der materielle Erwerb, zum Selbstzweck erhoben, beherrschte schließlich Denken und Trachten ausschließlich.

Aber die deutsche Seele wird wieder erwachen, den giftigen Apfel, gegen den vielerorts der Ekel im Wachsen, ausspeien und zu ihrer eingeborenen Herrlichkeit erneut erwachen.
 Vielleicht bald schon naht ihr der Königsohn.
 Das ist das trostreiche Märchen vom gläsernen Sarge.

Beitragsbild: Holzschnitt von Marianne Finck