Klassische Kriege enden normalerweise mit Niederlage oder Kapitulation, gefolgt oder nicht gefolgt von einem Friedensvertrag. Metaphysische Kriege haben niemals ein Ende oder können vielmehr nur durch ethnische Säuberungen, d. h. durch die vollständige Auslöschung einer der Kriegsparteien, beendet werden.
Netanjahu hat wiederholt erklärt, in der Hamas die bislang letzte Inkarnation Amaleks zu sehen und verortet damit den Krieg im Gazastreifen in einer eindeutig transhistorischen Perspektive. Im hebräischen Bibeltext bezeichnet der Name Amalek metonymisch den ewigen Feind Israels: „Der HERR führt von Geschlecht zu Geschlecht Krieg gegen Amalek“ (Exodus 17,16).

In der Bibel steht Amalek sowohl für ein Volk als auch für einen Nomadenstamm, der als der größte Feind des alten Israel galt. Die Amalekiter werden als Angreifer der Israeliten während ihrer Flucht aus Ägypten dargestellt, wie es im Buch Exodus beschrieben wird. Obwohl die Israeliten aus diesem Konflikt als Sieger hervorgingen, wurde den Nachkommen Amaleks anschließend ein göttlicher Fluch auferlegt.
Amalek ist der archetypische Feind Israels und damit das absolute Böse. Sein Andenken muß ausgelöscht werden, er muß demnach vernichtet werden. Mit dem Bösen schließt man keinen Friedensvertrag, man läßt es verschwinden.
Unsere Zeitgenossen befinden sich in einer Gemütsverfassung, die sie nicht dazu drängt, Krieg zu führen. Nicht weil Krieg an sich als „Übel“ beurteilt wird (ein solches Urteil ist zeitlos), sondern weil sie als Individualisten zu dem Schluß kommen, daß niemand an ihrer Stelle über die Zweckmäßigkeit entscheiden kann, ihr Leben zu riskieren.
Ein weiterer Grund ist, daß sie — entgegen dem, was in früheren Jahrhunderten allgemein geglaubt wurde — davon ausgehen, es gebe nichts Schlimmeres als den Tod: nichts, wofür es sich lohne, das Risiko des Sterbens einzugehen, nichts, das über uns hinausgeht. Glaube und Überzeugungen werden nicht als Dinge wahrgenommen, denen man alles opfern sollte, zumal sich die Idee verbreitet hat, dass es nach dem Tod nichts mehr gibt.
Diese Gesinnung steht in vollkommener Übereinstimmung mit der liberalen Ideologie. Wie soll der liberale Staat zum Kampf für die Verteidigung des Vaterlands aufrufen, wenn der Liberalismus sich prinzipiell verbietet, über das „gute Leben” zu urteilen, und in der Gesellschaft nur eine Summe von Individuen sieht, wobei das „Vaterland” nichts weiter als eine Chimäre ist?
Wenn ein liberaler Staat Krieg führt und seine Bürger aufruft, sich daran zu beteiligen, auch wenn sie dabei ihr Leben riskieren, während er zugleich dazu neigt, jedes große kollektive Projekt zu diskreditieren, verrät er sich selbst. Das hat Carl Schmitt treffend festgestellt:
Die politische Einheit muß, wenn nötig, verlangen, daß man sein Leben opfert. Aber der Individualismus des liberalen Denkens kann sich dieser Forderung in keiner Weise anschließen oder sie rechtfertigen […] Für den Einzelnen als solchen gibt es keinen Feind, gegen den er die Verpflichtung hätte, bis zum Tod zu kämpfen,, wenn er selbst nicht damit einverstanden ist; ihn gegen seinen Willen zum Kampf zu zwingen, ist aus der Perspektive des Einzelnen in jedem Fall ein Eingriff in die Freiheit und eine Form von Gewalt.
Die Europäer wissen nicht mehr, was Krieg ist, nämlich ein Gewaltakt, dessen Ziel Frieden ist. Krieg ist niemals etwas anderes als ein Mittel zur Erreichung eines Zieles. Und dieser Frieden ist politischer Natur, aus demselben Grunde, aus dem Krieg selbst nur eine Fortführung der Politik ist.
In der ukrainischen Angelegenheit hatten die Europäer nie ein politisches, diplomatisches oder strategisches Ziel, sondern waren einzig und allein darauf bedacht, aus rein ideologischen Gründen einen Krieg zu unterstützen, den die Ukrainer niemals gewinnen konnten. Jeder Krieg, der nicht von einem politischen Plan für den Frieden begleitet wird, kann nur ins Chaos führen.
Die Vereinigten Staaten und Israel sind Länder, die unfähig sind, ein politisches Ergebnis zu konzipieren, weil sie unfähig sind, Kriege als politische Tatsachen zu sehen und unbedingt darauf bestehen, ein moralisches Urteil über sie zu fällen. Deshalb gewinnen sie alle Schlachten — aber verlieren alle Kriege.
Wie kann der liberale Staat zur Verteidigung des Vaterlandes aufrufen, wenn der Liberalismus sich selbst verbietet, über das „gute Leben” zu entscheiden und die Gesellschaft nur als Summe von Individuen sieht?
Carl Schmitt erinnerte auch daran, daß Krieg nur im Angesicht einer existenziellen Bedrohung für die eigene Zugehörigkeitsgemeinschaft gerechtfertigt sei (das Töten des Feindes habe keinen normativen, wohl aber einen existenziellen Wert):
Es gibt keinen vernünftigen Zweck, keine Norm, wie gerecht sie auch sei, kein Programm, wie vorbildlich es auch sei, kein soziales Ideal, wie schön es auch sei, keine Legitimität oder Legalität, die den Umstand rechtfertigen könnte, daß Menschen sich in ihrem Namen gegenseitig töten. Denn wenn am Ursprung dieser physischen Auslöschung menschlichen Lebens nicht die vitale Notwendigkeit steht, die eigene Existenzform angesichts einer ebenso lebenswichtigen Negation dieser Form aufrechtzuerhalten, kann nichts sie rechtfertigen.
Wenn [ein Volk], fügte er hinzu,akzeptiert, daß ein Fremder ihm die Wahl seines Feindes diktiert und ihm vorschreibt, gegen wen es das Recht hat zu kämpfen und gegen wen nicht, hört es auf, ein politisch freies Volk zu sein, und wird in ein anderes politisches System eingegliedert oder diesem untergeordnet. Ein Krieg bezieht seine Bedeutung nicht aus der Tatsache, daß er für Ideale oder Rechtsnormen geführt wird; ein Krieg hat nur dann einen Sinn, wenn er gegen einen realen Feind gerichtet ist.
Die Europäer wollen nicht, daß Selenskyj vor Putin kapituliert, nachdem sie selbst beim ersten Pfiff vor Trumps Forderungen in Handelsfragen kapituliert haben. Sie schwenken wie eine Rassel eine unwahrscheinliche „russische Bedrohung“, die diejenigen erschrecken soll, die überzeugt wurden, eine Sache zu unterstützen, die in keiner Weise ihren eigenen Interessen entsprach.
Wer will heute noch sein Leben für unglaubwürdige „republikanische Werte“ geben? Vorbei ist die Zeit, da der Dichter Horaz schreiben konnte: „Dulce et decorum est pro patria mori“ („Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“, Oden, III, 2).
Für das eigene Vaterland, sagte er, nicht für das der anderen.
Beitragsbildquelle: AFP