
Der Schatten von Ḫattuša – über Synkretismus und Identitätserosion in Europa
Irgendwo im verlassenen anatolischen Hinterland, weit entfernt von touristischen Routen und geopolitischen Aktualitäten, liegen die Ruinen von Ḫattuša – einst die Hauptstadt des Hethiterreichs. Ein Reich, das in der späten Bronzezeit von der Ägäisküste bis tief nach Syrien reichte und sich mit Großmächten wie Ägypten, Assyrien und Babylonien messen konnte.

Ḫattuša, Bildquelle: https://www.weltkulturerbe.com/asien/tuerkei/hattusa
Ḫattuša war mehr als eine Hauptstadt. Es war ein Spiegelpalast der Zivilisationen. In seinen Archiven liegen Zehntausende von Tontafeln, geschrieben in mindestens neun Sprachen. Der Staat pflegte seine Mehrsprachigkeit als politischen Trumpf: Religiöse und juristische Angelegenheiten wurden in Hethitisch, Akkadisch, Luwisch, Hattisch, Hurritisch und manchmal sogar in Sumerisch oder Indoarisch abgewickelt. Die Hofelite war polyglott, kulturell versiert und diplomatisch flexibel. Heute würden wir von einem Modell der Inklusivität, Vielfalt und Internationalisierung sprechen.
Und doch – oder vielleicht gerade deshalb – verschwand das Hethitische. Nicht nur als Sprache, sondern auch als Identität. Innerhalb weniger Generationen nach dem Untergang des Reiches gab es keine Spur mehr von einem hethitischen Selbstverständnis, kein kulturelles Gedächtnis, keine weitergegebenen Mythen. Was überlebte, war das Luwische – eine lokale, populäre Kultursprache. Die Sprache der Elite verschwand, die Sprache des Volkes blieb. Was geschah? Und noch wichtiger: Was sagt das über uns aus?
Die hethitische Elite baute ihre Identität nicht um einen eigenen, exklusiven Kern herum auf, sondern absorbierte kulturelle Elemente aus allen Richtungen. Die Götter kamen aus hurritischen Tälern, die Helden aus Akkad, die Rituale aus luwischen Hügeln, die diplomatische Sprache aus Mesopotamien. Sogar der Name ihres Reiches, ›Ḫatti‹, bezog sich auf ein Volk, das sie selbst unterworfen hatten. Die Herrscher positionierten sich nicht als „auserwähltes Volk”, sondern als Verwalter eines hybriden Zivilisationsprojekts.
Auf den ersten Blick scheint dies bewundernswert. Doch es hatte seinen Preis. Denn wenn eine kollektive Identität nur aus externen Anleihen besteht, wenn sie kein verbindendes Zentrum, keinen sakralen Kern, keinen mythischen Anker hat – was bleibt dann übrig, wenn die politische und militärische Struktur verschwindet?
Ḫattuša hatte kein gemeinsames Ritual, keine Volkserzählung von Auserwähltheit oder Kampf. Kein Exodus, keine Ilias, keine „Grundsatzerklärung”. Die Kultur war ein Mosaik – schön, komplex, aber ohne Zement.
Europas synkretistischer Spiegelsaal
Das heutige Europa findet sich, bewußt oder unbewußt, in diesem Modell wieder. Die klassischen Quellen der europäischen Identität – das Christentum, das griechisch-römische Erbe, die nationalen Geschichten, die Verbundenheit mit Land und Sprache – wurden in rasantem Tempo dekonstruiert oder relativiert. An ihre Stelle trat eine diskursive Architektur: Menschenrechte, Rationalität, Nachhaltigkeit, Vielfalt.
Das klingt edel. Aber wie in Ḫattuša beruht diese Identität in hohem Maße auf abstrakten Prinzipien und nicht auf verkörperten Praktiken. Der europäische Bürger wird dazu ermutigt, „kosmopolitisch” zu sein: flexibel, mehrsprachig, mobil, rational. Er spricht Englisch, arbeitet für multinationale Unternehmen, lebt in Städten ohne Erinnerung, ißt internationale Küche, konsumiert globale Kultur. Aber wer ist er noch – abgesehen von diesen funktionalen Codes?
Frankreich ist vielleicht das deutlichste Beispiel dafür. Die Republik hat ihre nationale Geschichte bereits vor Jahrzehnten durch den „Universalismus” der Aufklärung ersetzt. Jeder Bürger – unabhängig von seiner Herkunft – soll an einem säkularen Vertrag teilnehmen: liberté, égalité, fraternité. Aber diese Gleichheit ist formal: Sie beruft sich auf Vernunft, nicht auf Gemeinschaft. Das klassische katholisch-christliche Erbe wurde zunächst gemieden, dann entfernt und schließlich vergessen.

Marianne, „Die Freiheit führt das Volk“, Gemälde von Eugène Delacroix, 1830
Die Folge? In den Banlieues sprechen Millionen junger Menschen zu Hause kein Französisch, sondern Arabisch oder Bambara. Sie identifizieren sich nicht mit Marianne, Voltaire oder der Tricolore. Die Laizität wird als Feindseligkeit empfunden. Die Republik schwört auf universelle Werte, versagt aber bei der verkörperten Anerkennung. Sie ist, wie Ḫattuša, eine Konstruktion ohne Volk.

Betende Moslems in den Straßen vom Paris, Bildquelle: Reuters
Das Vereinigte Königreich verkörpert ein anderes Szenario. Dort wurde die Identität lange Zeit durch imperiale Größe, anglikanische Rituale und die Monarchie als Symbol getragen. Aber seit der Entkolonialisierung und dem Aufstieg einer postnationalen Elite ist dieses Fundament ausgehöhlt. Die „britischen Werte” werden heute als Respekt, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit deklariert – funktionale Begriffe, aber ohne liturgisches Gewicht.
London ist, genau wie das alte Ḫattuša, zu einer Hauptstadt der Welt geworden. Dort werden mehr als 300 Sprachen gesprochen. Aber es gibt kaum noch eine gemeinsame Geschichte, die diese Mehrsprachigkeit integriert. Wie bei den Hethitern dominiert der Eindruck einer Elite, die in einem supranationalen Netzwerk lebt, während das Volk an populistischem Nationalismus, Nostalgie oder tribalistischem Ressentiment festhält.
Belgien ist ein fast schon ironisches Spiegelbild des mehrsprachigen Hofes der Hethiter. Auch hier gibt es mehrere Sprachen, mehrere Kulturen, mehrere Geschichten. Aber anstatt diese Vielfalt zu einem gemeinsamen Symbol zu erheben, hat man den Konflikt institutionalisiert. Flandern und Wallonien leben in parallelen Realitäten. Brüssel ist eine mehrsprachige Insel ohne Bindung. Die belgische Identität existiert vor allem dank ihrer administrativen Komplexität. Wie in Ḫattuša sprechen die Eliten alle Sprachen – aber niemand spricht mehr zum Herzen.
Der Geist der Aufklärung – ohne Körper
Wie die hethitische Elite beruft sich auch die europäische Elite heute auf universelle Prinzipien: Menschenrechte, Rationalität, Freiheit. Aber diese Werte sind losgelöst von Erbe, Gemeinschaft, Ort. Sie sind säkulare Relikte ohne Altar. Sie verlangen Loyalität, bieten aber keinen Mythos. Sie erheben Verfahrensweisen über das Pathos.
Der liberale Mensch ist eine Abstraktion: autonom, vernünftig, mobil. Aber wo lebt er? Wo betet er? Was trauert er? Wer sind seine Vorfahren? Was ist seine Heimat?
Wie das hethitische Projekt droht auch die europäische Zivilisation ihre Seele im vielschichtigen Spiegel ihres Pluralismus zu verlieren.
All dies ist kein Plädoyer für Abschottung, ethnischen Essentialismus oder nativistische Nostalgie. Europa muß keine Insel werden. Aber es muß wieder den Mut haben, einen wahren Kern zu schaffen, einen sakralen Raum, in dem Vielfalt zu einer Form der Verbundenheit wird. Ohne ein solches Zentrum wird Mehrsprachigkeit zu Babel.
Diversität wirkt zentrifugal. Die Vergangenheit wird zu einem leeren Feld – und die Zukunft zu einer technokratischen Tabelle. Eine Zivilisation ohne Rituale, ohne Erinnerung, ohne eigene Stimme ist wie ein Körper ohne Herzschlag.

Germania auf derWacht am Rhein, Gemälde von Lorenz Clasen, 1860
Was Europa braucht, sind nicht mehr Vorschriften, mehr Inklusionsindikatoren oder mehr universelle Erklärungen. Was es braucht, ist eine Rückbesinnung auf seine Wurzeln: Geschichten, die verwurzelt sind, Kunst, die herausfordert, Liturgie, die verinnerlicht, Rituale, die verbinden.
Die Hethiter hatten alles – außer einem Mythos über sich selbst. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Die Ruinen von Ḫattuša flüstern uns keine Leitsprüche zu. Sie stimmen keinen Schlachtruf an. Aber sie stellen eine unbequeme, existenzielle Frage: Wenn man alles von anderen übernimmt – was bleibt dann noch von einem selbst übrig?
Quellen:
Furedi, F. (2017). What’s Happened to the University? A Sociological Exploration of Its Infantilisation. Routledge.
Anderson, B. (2006). Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (Revised ed.). Verso.
Bauman, Z. (2000). Liquid Modernity. Polity Press.
Suvorkin, D. (2020). Meertaligheid en etnische identiteit in het Hettitische Rijk.
Bryce, Trevor. Leben und Gesellschaft in der hethitischen Welt. Oxford: Oxford University Press, 2004.
Beckman, Gary. ›Akkadianisch und die Hethiter.‹ In Geschichte der akkadischen Sprache, herausgegeben von Juan-Pablo Vita, 1266-92. Leiden: Brill, 2021.
Ein toller Beitrag, der das unumkehrbare Dilemma unserer Zeit, Politik auf den Punkt bringt. An meinem Pessimismus kann er leider nichts ändern.