Emanuele Franz

Die fortschreitende Ausbreitung von Einsamkeit (d. h. dem Verlust bedeutungsvoller Beziehungen), seelischen Leiden, Entscheidungsunfähigkeit und Sinnverlust in der heutigen Welt deutet auf das Scheitern der bestehenden Organisationsformen (Staaten, Vereinigungen, Imperien) und die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung unserer Gesellschaften hin

[Franco Fabbro in ›La svolta biopsichica‹]

In diesem Jahr habe ich nach einem monatelangen Prozeß entdeckt, daß ich autistisch bin. Das hat mir ermöglicht, viele Aspekte meiner Identität zu verstehen, mehr Bewußtsein zu erlangen und vor allem mich zu fragen, was das Autismus-Syndrom bedeutet, und mir sehr heikle Fragen über die Beziehung zwischen Autismus und Politik zu stellen.

Zunächst einmal ist Autismus keine Krankheit, sondern eine Besonderheit des Nervensystems, die zu Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Informationen zwischen der Außenwelt und der Innenwelt führt. Es handelt sich also um eine neurologische Besonderheit, die dazu führt, daß Autisten unter einer Beeinträchtigung des sozialen Lebens leiden.

Autisten gelingt es nicht, ein Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, sich also als Teil einer Gruppe, einer familiären und kollektiven Dynamik zu fühlen, da sie Schwierigkeiten haben, ein Modell von außen zu assimilieren und es nach innen zu übertragen, sodaß sie gezwungen sind, ein internes Modell zu entwickeln. Aus diesem Grund leben sie in ihrem eigenen Universum und neigen dazu, eine eigene Welt, eine eigene Sprache zu entwickeln, was jedoch keineswegs bedeutet, daß sie unfähig oder unmündig sind. Autisten haben sicherlich ein Handicap, das ihnen Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und auch eine spezifische Wahrnehmungsweise bereitet, da sie die Welt nicht auf die gleiche Weise wahrnehmen wie neurotypische Menschen.

Neurotypisch bezeichnet eine Person, die statistisch gesehen vorherrschend ist und eine Nervenstruktur hat, die der Mehrheit entspricht. Inwiefern möchte ich das Thema der Beziehung zwischen Autismus und Politik behandeln?

Zunächst einmal in dem Sinne, daß Autisten individuelle Wesen sind, die ihre Vollkommenheit in sich selbst zu finden suchen. Aὐτός (autos) („selbst”, d. h. „sich selbst”) ist das griechische Wort, das dem Begriff Autismus zugrunde liegt. Es bezeichnet eine Hinwendung nach innen, ein Anderssein, zumindest nach Aristoteles, der den Menschen als soziales Wesen bezeichnete. Der autistische Mensch ist die Ausnahme, die die (soziale) Regel auf den Kopf stellt.

Für diejenigen, die die Gesellschaft verwalten, ist der Autist ein Problem, das es einzudämmen, wenn nicht gar zu unterdrücken gilt.

Wir leben in einem sozialen Modell, in dem die Gemeinschaft einer induzierten sozialen Ordnung unterworfen ist, die auf Konsens basiert, sowohl wirtschaftlichem als auch politischem Konsens. Der neurotypische Mensch hat eine Logik, die auf der Suche nach Wohlbefinden und persönlichem Konsens, also nach persönlichem Vorteil, basiert. Auf dieser Grundlage ist seine Reaktion auf bestimmte Reize in bestimmten Situationen vorhersehbar.

Vertreter aus Politik und Wirtschaft können eine bestimmte Reaktion bei einem Menschen herbeiführen. Was ich sage, ist keine Science-Fiction, man denke nur an das berühmte Werk ›Die Konsensfabrik: Die politische Ökonomie der Massenmedien‹ von Edward S. Herman und Noam Chomsky oder auch an den Text ›Die Waffen der Überzeugung‹ von Robert Cialdini, in dem aufgezeigt wird, wie das amerikanische Marketing in den 70er Jahren sogar die Farben und geometrischen Formen von Waschmittelverpackungen anhand der Monatszyklen der Hausfrauen untersuchte, um sie zum Kauf zu verleiten, und all dies basierte auf der Vorhersehbarkeit des neurotypischen Subjekts.

Diese Vorhersehbarkeit wird durch und in autistischen Menschen völlig außer Kraft gesetzt, da sie nicht in der Lage sind, ein Modell von außen zu übernehmen, sich keiner konventionellen Logik unterwerfen und somit zu einem Problem werden, das es einzudämmen gilt.

Die politische Klasse behauptet, daß autistische Menschen unfähig seien zu denken, und will sie in eine Nische der kognitiven Unfähigkeit stecken, ihnen jede Glaubwürdigkeit nehmen und sie (vorgeblich) aus einer sozialen Ghettoisierung herausholen, um sie politisch und intellektuell zu ghettoisieren. Wenn Autisten als „arme Wesen” oder als „dement” betrachtet werden, können sie integriert und somit toleriert werden.

Die Geschichte ist voll von autistischen Menschen, die Revolutionen in Wissenschaft, Kunst und Denkweisen ausgelöst haben, oft unter Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Macht. Denken wir an Nicola Tesla, einen bekennenden Autisten, der allen Menschen kostenlose Energie zur Verfügung stellen wollte und damit die Märkte und Oligarchien erschütterte.

Das Leben von Neurodivergenten, das nicht auf Konsens und persönlichen Vorteil ausgerichtet ist, kann Innovationen hervorbringen, die anderen zugutekommen, aber stigmatisiert werden. Warum? Weil Autisten eine gefährliche Botschaft senden, nämlich:

Ich, in meinem Zuhause, mit meiner Fähigkeit zu erschaffen – also eine kreative Botschaft zu vermitteln – kann die Welt verändern, ich kann eine Botschaft bringen, die andere beeinflußt.

Der Vertreter des politischen Lebens fühlt sich durch die Gefährlichkeit dieser Botschaft entmachtet. Denn der Bürger muß seine Existenz an die Institution und ihre Vertreter delegieren, er kann sich nur über Zeitungen, Medien, Industrie, Ausschüsse, Vorstände, also alle Ordnungen, deren Spitzen nie das reale Leben des einzelnen Bürgers berühren, Gehör verschaffen.

Der Bürger kann sich in seinem Zuhause nicht zum Schöpfer aufschwingen, denn sonst würde er die Ordnung des zivilen, politischen und wirtschaftlichen Prozesses von Grund auf ablehnen. Aber der Autist kümmert sich weder um diese Logik noch um dieses Gebot. Er sagt:

Ich bin Träger einer Welt, ich erschaffe, ich bin mein eigenes Vorbild, ich bin das Gesetz, das ich in mir trage – das Gesetz des Wissens, das unteilbare, schöpferische Individuum.

Man muß dann das Wort „Kollektiv” von dem der Gemeinschaft unterscheiden. Kollektiv ist heute das, was dazu neigt, alles und jeden zu vereinnahmen, als gäbe es keine Unterschiede mehr, die sogenannte „flüssige” Gesellschaft, die jede Unterschiedlichkeit auf die gleiche Ebene stellt und damit jede Abweichung beseitigt.

In Amerika wurde versucht, das Gen zu identifizieren, das für die Veranlagung zu Autismus verantwortlich ist, und es gab Protestkundgebungen von Familien autistischer Menschen, weil man dann Frauen dazu drängen wollte, autistische Ungeborene abzutreiben, um so eine Eugenik der Neurodiversität zu betreiben.

Es gibt also einen politischen Willen, autistische Menschen zu eliminieren, da sie in der Lage sind, das soziale Modell, in dem wir uns befinden, zu sprengen, ein soziales Modell, das auf Konsens und Unterdrückung basiert. Denken wir nur daran, daß der politische Aufstieg darauf beruht, daß man einen Bürger dazu bringen oder zumindest überreden kann, zu wählen, zu kaufen, zu applaudieren.

In den antiken Gesellschaften hingegen wurde der nicht außergewöhnliche Mensch als eine Epiphanie gesehen, als ein besonderes Wesen, gleichwohl wurde er isoliert, sei es im Tempel oder einem eigens zugewiesenen und abgegrenzten Raum, er wurde befreit (im Sinne von: herausgelöst).

Es muß noch ein drittes Sozialmodell entwickelt werden, das auf dem schöpferischen Subjekt basiert, und dieses Sozialmodell kann nicht auf der Polis, also dem klassischen Konzept einer Gesellschaft, die auf einer großen Anzahl von Individuen basiert, beruhen, sondern es muß zu einer kleinen sozialen Gruppe zurückgekehrt werden, in der die Individualität geschützt und mit den Mitteln ausgestattet wird, ihren Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten.

Um auf diese Gesellschaft zu reagieren, die das schöpferische Denken ausmerzen will, müssen wir uns das Konzept des absoluten Individuums wieder aneignen, d. h. die Tatsache, daß Sein und Individuum eine Synthese bilden, die über das Individuum und das Sein hinausgeht, eine Einheit, in der das autistische Ich mit der gesamten Unendlichkeit des Universums verschmilzt.

Das schöpferische Subjekt ist ein Fenster zum Universum – wie die Monade bei Leibniz, jedoch nicht unpersönlich: Es ist kein entpersonalisiertes Bewußtsein, sondern ein Fenster, das sich ganz allen hingeben kann. Es bedeutet also kein vollständiges Sich-Verschließen, sondern ein Sich-Absondern vom Unwesentlichen, eine Befreiung von jenem kleinlichen Gesellschaftsmodell, das seit Jahrtausenden auf der Unterdrückung des einen durch den anderen basiert. Denn das Streben nach persönlicher Zustimmung bedeutet letztlich immer die Unterwerfung anderer.

Das autistische Subjekt ist daher die größte Bedrohung für ein Gesellschaftsmodell, das auf der Überlegenheit des einen über den anderen beruht. Der Autist ist kein „mißglückter Fall“, sondern eine echte Sprache des Geistes, die in die Menschheit eingreift, um sie zu einem neuen Gesellschaftsmodell zu drängen.

Emanuele Franz

Quelle: https://www.ereticamente.net/autismo-e-politica-la-volonta-di-sterminare-il-pensiero-creatore/