Dr. Walter T. Rix

Dieser Beitrag entstammt ebenfalls der endgültig letzten Ausgabe der Zeitschrift ›Deutsche Warte‹, Nr. 14 – 2025/1.

 

Königsberg, die Landeshauptstadt Ostpreußens, war bei aller wirtschaftlichen Geschäftigkeit und trotz eines bisweilen hervortretenden provinziellen Kolorits eine Sphäre des Geistes. Das mag auch mit ihrer Lage im äußersten Nordosten Deutschlands zusammenhängen, die die Bewohner anregte, gleichzeitig nach Westen und Osten zu blicken. Zahlreich sind die geistigen Zeugnisse dieser Stadt, und unter diesen spielt die schöngeistige Literatur keine geringe Rolle.

Eng verwachsen mit dieser Stadt und ihrem Geist war Agnes Miegel. Ihr Werk verdient besonderes
 Interesse, weil aus ihm einerseits Königsberg und Ostpreußen spricht, es aber weit über diesen Rahmen hinausgreift und sich mit grundlegenden Fragen auseinandersetzt. Ihre Stimme ist die des Ostlandes, wobei „Ostland“ nicht im Sinne von Grenzen und Nation zu verstehen ist, sondern einen kulturgeschichtlichen Raum meint. Zweifellos hängt Agnes Miegel mit jeder Faser ihres Lebens an Ostpreußen, aber ihr Horizont geht weit darüber hinaus. In den 30er Jahren erklärte sie gegenüber der Schauspielerin Ilse Reicke, die sie für den Berliner Rundfunk interviewte, mit Leidenschaft:

Wir Ostpreußen haben Weltblut! Die Welt gehört uns. Gerade weil meine Dichtung über Ostpreußen hinausgeht, ist sie typisch. Ostpreußen sah, fühlte weiter, sah über sich hinaus!

Entsprechend erstrecken sich Schauplätze ihrer Dichtung bis nach Japan. Weniger als die Hälfte ihres Werkes ist Ostpreußen gewidmet. Und so verbindet sich bei ihr die Thematik Ostpreußen häufig mit einer weiterführenden Perspektive. Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt, unter dem ihre Dichtung gesehen werden muß.

Agnes Miegel hatte bereits 1901 und 1907 Lyrik veröffentlicht und Anerkennung gefunden, als sie den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte. Ihre Lebensumstände zwangen sie, den Ablauf der Ereignisse aus einem bestimmten Blickwinkel zu verfolgen. In aufopfernder Pflege versorgte sie ihren schwerkranken und erblindenden Vater, der am 13. September 1917 verstarb. Vorausgegangen war eine Zeit des Bangens, da die Armee des Zaren im ersten Ansturm weite Teile Ostpreußens besetzt hatte. Der russische General baltischer Herkunft Rennenkampf war bis in gefährliche Nähe von Königsberg vorgestoßen.

 

Erst die Schlacht bei Tannenberg im August 1914 sowie die Schlacht an den Masurischen Seen im September 1914 und die Winterschlacht in Masuren im Februar 1915 waren in der Lage, die russische Bedrohung aufzuhalten. Obgleich sie das Krankenzimmer ihres Vaters nur kurzfristig verlassen konnte, bewegten diese Ereignisse Agnes Miegel zutiefst. Jedesmal wenn sie dem Krankenzimmer entfloh, drangen behördliche Anschläge und aufrüttelnde Zeitungsmeldungen, Ansammlungen irritierter Bürger und erschreckende Berichte von Flüchtlingen auf sie ein. Fast war es so, als wirkte die Enge des Krankenzimmers wie ein Verstärker der Nachrichtenwirkung, zumal sie das bedrohliche Geschehen mit ihrem geschichtskundigen Vater eingehend erörterte.

Neben anderen Gedichten entstanden in der Kriegszeit insbesondere zwei Gedichte, die sich mit Rußland befassen, ›Rossija‹ und ›Das Kriegskind‹. Zunächst fand sich in den unruhigen Zeiten kein Verleger, so daß beide Gedichte erst 1920 in dem Sammelband ›Gedichte und Spiele‹ in dem Jenaer Verlag Eugen Diederichs erschienen.

Rossija‹ ist der Versuch, das Wesen des rätselhaften Kolosses Rußland dichterisch zu vermitteln. Die Darstellung lehnt sich an die damals übliche Vorstellung der griechischen Mythologie von Pallas Athene an, der Göttin des Handels und der Kunst, aber auch des Kampfes. Für die damalige Zeit finden sich zahlreiche Beispiele für eine derartige Darstellung eines Landes, so in der mythologischen Gestalt von Germania oder Britannia. Eine derartige Form der Darstellung erlaubt es, dem betreffenden Land jene Eigenschaften zuzuschreiben, die man für wesentlich hält. Allein der Titel des Gedichtes als russische Eigenbezeichnung läßt erkennen, daß die Autorin dem eigentlichen Charakter so nahe wie möglich kommen will. Insofern ist eine solche literarische Gestalt für den Betrachter ein aussagekräftiges Studienobjekt, sowohl hinsichtlich der damals vorherrschenden Ansichten, als auch in Bezug auf die Überzeugungen der Autorin.

Die Ehrfurcht gebietende Gestalt der Pallas Athene erscheint in dem Gedicht als ›Mütterchen Rußland‹, die Verkörperung einer Macht, die aufgrund ihrer unüberschaubaren Landmasse und der gewaltigen Bevölkerungszahl bisweilen auch der Neigung erliegt, den Herrschaftsbereich über die eigenen Grenzen hinaus auf Kosten anderer auszudehnen, eine Tendenz, die sich durch das Sendungsbewußtsein noch verstärkt.

Nach den Warägern hat der sich herausbildende Staat immer neue Völkerschaften in sich aufgenommen, so daß die inneren Wirren und Kämpfe nie aufhörten. Aber aus jedem internen Konflikt ist das Land gestärkt und mit größerer Machtfülle hervorgegangen, so daß ›Mütterchen Rußland‹ „… immer wieder singt wie eine junge Braut“. Rußland – die sich ewig verjüngende Macht!

Zwar regiert das Zarentum auch „mit des Grauens Eisenkrallen“, aber der selbstbezogene Mythos und die tiefe Religiosität, fügen Herrscher und Volk immer wieder zur Einheit. Insgesamt ist die Darstellung Rußlands nicht ohne verhaltenen Respekt, dennoch ist eine deutliche Warnung nicht zu übersehen.

Einen ganz anderen Weg geht Agnes Miegel in dem Gedicht ›Das Kriegskind‹. Es ist bewußt in der einfachen Sprache der ›Dainas‹, der litauischen Volksgesänge, gehalten, die der Dichterin durch die im elterlichen Haushalt wirkende „alte Lina“ vertraut war. Durch die Kriegsereignisse werden Bruder und Schwester in unterschiedlicher Weise Opfer des Geschehens, durch das sie gegeneinanderstehen und eine Entscheidung über Tod oder Leben treffen müssen. Als der Soldat Jurgis von der Front auf Urlaub kommt, findet er seinen Hof zerstört und seine Schwester Ewe durch einen russischen Vergewaltiger entehrt und geschändet. Um die Schande zu tilgen und seine Schwester von einer Last zu befreien, die ihr auch in Zukunft stets anhängen wird, ist Jurgis entschlossen, das Kind zu töten:

Ist’s so, liebe Schwester
Gib mir das Fremde
Das Russenkindchen
Will das Tuch verknoten
Will zum Fluß es tragen
Will‘s drin versäufen
Wie ein blindes Hundchen!

Doch die Schwester sieht in dem Kind nicht die Frucht der Vergewaltigung, sondern das Heranreifen eines Lebens, für das der Mensch trotz allem die Verantwortung übernehmen muß. Auf die Frage von Jurgis, was denn aus dem Geschöpf, wenn man es leben läßt, in Zukunft werden soll, bekennt sich die Schwester mit folgenden Worten zu dem Kind:

Was daraus werden soll?
Ein guter Landmann,
Wird hinterm Flug gehen
Dort auf dem Acker.
Mit der Peitsche knallen,
Wird lustig pfeifen,
Wird sein Pferdchen satteln
Nach Tilsit reiten
In die Kaserne:
Wird ein Dragoner
Ein junger, forscher,
Wie sein Onkel Jurgis!

Bei seinem Erscheinen hat dieses Gedicht viel Kopfschütteln hervorgerufen, da es sich mit seiner Aussage mutig über die gezogenen Grenzen hinwegsetzt. Trotz seiner auf den ersten Blick simplifizierten Form und der thematischen Begrenzung vertritt das Gedicht Positionen, die sich konstant durch das Gesamtwerk ziehen. Es ist die feste Überzeugung, daß der Mensch als Geschöpf Gottes eine unabänderliche Verantwortung gegenüber dem Leben hat, wie dieses sich auch gestalten mag. So individuell der Mensch auch in seinem Wesen geschaffen ist, er ist Zeugnis einer Kette von Vorfahren aus denen er hervorgeht und in deren Weiterleben er auch wieder eintaucht. Wesentlich für ihn ist eine harmonische Beziehung zur Schöpfungsgrundlage, im übertragenen Sinne, zur Erde.

Agnes Miegel, Radierung von Heinrich Wolff

Agnes Miegel, Radierung von Heinrich Wolff

Das alles vollzieht sich am Beispiel des Geschwisterpaares im Gedicht. Das Kind mit seinem Anspruch auf Leben folgt seinem „Onkel“ Jurgis und setzt die Generationsreihe als guter Bauer fort. Hinein spielt die Zeitauffassung Agnes Miegels. Als tiefreligiöser Mensch denkt sie zwar in den Bahnen christlichen Glaubens, aber sie nimmt sich die Freiheit, weitergehenden Vorstellungen zu folgen. So ist sie von der Wiedergeburt überzeugt, was zu einer zyklischen Zeitauffassung führt. Indem das zunächst nicht gewollte Kind in das Leben tritt, beginnt ein Kreislauf: Es folgt seinem „Onkel“ Juris in dessen Fußstapfen als Landmann, und es wird auch wie dieser Soldat. So bewegt sich das Leben letztlich in kreisförmigen Bahnen, die als elementare Gesetze die Enge der Zivilisation zurücktreten lassen.

Die Erzählung ›Apotheose‹ verschafft einen besonders aufschlußreichen Zugang zu Agnes Miegels Haltung gegenüber Rußland. Hier zeichnet sie ein Bild des Landes, das in seiner Machtstruktur und Herrschaftsform zwar widersprüchlich, bisweilen sogar rätselhaft ist, jedoch zugleich auch eindrucksvolle positive Züge aufweist. Dies spiegelt sich in einigen zentralen Figuren am Zarenhofe, die die Wesenszüge des Landes verkörpern. Das Geschehen schließt programmatisch mit einer „Schlußapotheose“, wobei der Begriff am Ende im Text ausdrücklich genannt wird. Wie Agnes Miegels Biographin Anni Piorreck mitteilt, erfolgte der Anstoß für diese Erzählung bereits Ende 1943 durch den Bericht eines Urlaubers von der Ostfront. Eine Veröffentlichung erfolgte jedoch erst 1949 zusammen mit vier anderen Erzählungen in dem Sammelband ›Die Blume der Götter‹.

Bemerkenswert ist die Unvoreingenommenheit, ja sogar Sympathie, mit der die Autorin das östliche Land betrachtet. Allerdings finden sich auch hier kritische Aspekte, die bereits in ›Rossija‹ in Erscheinung traten. Das Geschehen setzt ein mit einem traumhaften Rückblick der Zarin Katharina auf ihre Jugendzeit in Zerbst. Aber „… sie war eine Verwandelte mit dem Augenblick, wo sie die gesalbte Zarin war, die Alleinherrscherin Rußlands. Nicht mehr, nie mehr, nur noch in einem halben Morgentraum lebte die kleine schweigsame Prinzessin aus dem gelben Schloß in Zerbst“. In ihrer Stellung ist sie „Nur noch die Herrscherin des riesigen und unersättlich nach größerer Ausdehnung, nach den Küsten strebenden Reiches, des größten der Welt“. In ihrer Beziehung zum Fürsten Grigorij Orlow wird die Polarität Rußlands deutlich: Leidenschaftliche Hingabe und Zuwendung schließt nicht eine Unterströmung an Grausamkeit aus.

Das Geschehen läuft auf zwei konträren Ebenen ab: Die schrankenlose Prachtentfaltung am Hof Katharinas steht im schroffen Gegensatz zum entbehrungsreichen Landleben des russischen Bauern. Fürst Orlow wird zu einer gleichnishaften Figur Rußlands, die stets kraftvoll, überströmend, ewig jung, aber kaum an Gesetze gebunden ist. Die Darstellung seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Katharina läßt erkennen, daß Agnes Miegel als Autorin weit davon entfernt ist, prüde zu sein: Katharina „breitete die Arme rasch aus mit einer ihrer immer noch lebhaften Bewegungen, daß der rote Seidenmantel aufflatterte, ihre Brust, weiß und voll, von blauen Adern durchzogen, aus dem Nachtkleid tauchte“,

Als sie nach dem Treffen zusammen mit Orlow in den Garten zwischen dem Pauls-Palais und der Newa geht, bemerken sie einen Soldaten, der in strammer Haltung vor einem Rosenbeet auf Posten steht. Wer an dieser Stelle den Text mit scharfen Augen liest, dem eröffnet sich ein anderer Text, auf den die Erzählung anspielt. Es handelt sich hier um einen Subtext, eine Erzählweise, die sich häufiger bei Agnes Miegel findet, d.h. es wird ein Bezug zu einem anderen Text hergestellt ohne ausdrücklichen Hinweis auf die Integration des anderen Textes. Damit schwingt in der Aussage des eigentlichen Textes gleichzeitig der Inhalt des bezogenen Textes mit.

Um Wesen und Mentalität der Russen zu charakterisieren, hatte Bismarck in seinen Gedanken und 
Erinnerungen (1898) davon berichtet, daß in dem besagten Garten seit vielen Jahren ein Posten vor einem Beet aufgezogen war und man keinen Grund kannte, weshalb dies angeordnet worden war. Erst intensives und langwieriges Nachforschen brachte zu Tage

… die Kaiserin Katharina hat an der Stelle einmal ungewöhnlich früh im Jahre ein Schneeglöckchen wahrgenommen und befohlen, man solle sorgen, daß es nicht abgepflückt werde. Dieser Befehl wurde durch die Aufstellung einer Schildwache zur Ausführung gebracht. Dergleichen erregt unsere Kritik und Heiterkeit, ist aber ein Ausdruck der elementaren Kraft und Beharrlichkeit, auf denen die Stärke des russischen Wesens dem übrigen Europa gegenüber beruht.

In ›Apotheose‹ hält der Soldat beharrliche Wache vor einem Beet besonderer Rosen, die aus Versailles bestellt wurden und für den noch in den Kinderschuhen steckenden Großfürsten Alexander ein Herrschaftssignum darstellen. Die Erzählung gibt der Situation jedoch eine andere Wendung, als es bei Bismarck der Fall ist. Katharina entdeckt voller Erstaunen, daß die Schultern des Soldaten seltsamerweise zucken und Tränen seinen Wangen herunterrinnen. Nach dem Grund gefragt, erklärt dieser, er kenne zwar den Grund des Befehls nicht, wolle aber seine alte Mutter, die als Witwe ein bitteres Leben führe, noch einmal vor deren Tode sehen. Beide Brüder seien auf der Krim gefallen, und die Schwester sei schlecht verheiratet. Dieser Wunsch spricht die empfindsame Seite von Kathrinas Herz an, und sie befiehlt, die Mutter, Afanassia Iwanowa mit Namen, aus einem weitentlegenen Dorf an den Hof zu holen.

In der Mutter und ihrem mühevollen Leben zeichnet Agnes Miegel ein Bild des ländlichen Rußlands voller Sympathie und Zuneigung. Um ein Beispiel zu nennen: In ihrem Gesamtwerk fungiert die Biene stets als Ausdruck des Einklangs von Mensch und Natur. Dies gilt auch für Rußland. So findet sich ein entsprechender Dialog zwischen der alten Afanassia Iwanowa und ihrem Nachbarn:

„Es sind die Bienen an den Strohkörben”, und der Nachbar sagt: „Wollen schwärmen. Meine Bienchen, wollen immer noch schwärmen, die lieben. Fleißigen -,” und sie lehnt am Zaum überm Bänkchen und sieht ihm zu und sie reden von den Bienchen und „daß sie ihrem Iwan nun nicht mehr von dem Honig geben kann, ist solch gutes Honigjahr”.

Gesprächssituation und Art des Gesprächs sind der symbolische Ausdruck eines genügsamen und in sich selbst ruhenden Landlebens. Da die alte Frau durch einen Schlaganfall bereits halbseitig gelähmt ist, gleicht die weite Reise nach St. Petersburg einer nicht enden wollenden Tortur. Anläßlich eines großen Festes am Hofe soll sie der Zarin vorgestellt werden. Vor der Audienz hat sie sich jedoch in der Aufregung beschmutzt. Und so wirft man ihr in großer Hast ein zufällig bereitliegendes Festkleid über, ein „edelsteinstarrendes altes Prunkgewand“ und setzt ihr ein schweres goldenes Diadem auf. Während die Gesellschaft zur Huldigung in den angrenzenden Saal stürmt, bleibt die Greisin alleine zurück. Plötzlich sieht sie sich in den großen Scheiben des Palastes gespiegelt und verneigt sich tief vor sich selbst, weil sie meint, die Zarin vor sich zu haben.

Mit diesem Bild verwendet Agnes Miegel das in der Kunst verbreitete Motiv der Betrachtung des Selbst im Spiegel: Rußland betrachtet sich selbst im Spiegel, sowohl in seiner ursprünglichen Existenz als auch in der aufgesetzten Pracht, ohne über das Erkenntnisvermögen zu verfügen, die wahren Verhältnisse zu sehen. Ein derartiges Verkennen der Realität muß zum Auseinanderbrechen einer solch gegensätzlichen Ordnung führen. Der Höhepunkt des Festes ist ein Feuerwerk, das in seiner Großartigkeit doppeldeutig und zugleich ein Vorzeichen des Untergangs ist:

Neben den hohen Hecken steigen zwei riesige Feuerpalmen aus dem roten Qualm in den Nachthimmel und zerstieben hunderthäuptig, funkenregnend, zur Seite des großen Flammenbildes, das zwischen ihnen in goldenen Glanz aufgeht: der gekrönte kaiserliche Doppeladler! Einen Herzschlag lang steht er in der tiefen Bläue. Er zittert, er verschwimmt in Feuer und versprüht. Letzte Funken taumeln wie glühende Tränen hinab in den blutroten Dunst.

Sieht das grandiose Feuerwerk aus der dynastischen Perspektive des Hofes wie eine Manifestation der absoluten Macht aus, so vermittelt es für den distanzierten Beobachter das Bild einer Höllenfahrt. Geht ›Apotheose‹ mit der Vorstellung einer Vergöttlichung einher, so ist sie „Schlußapotheose“ deren Umkehr, der Absturz in ein Flammenmehr. Der Zarenadler versprüht im Feuer in Form von „glühenden Tränen“ und zerfällt im „blutroten Dunst“.

Lakaien räumen dort (Festsaal) eilig die Tafel ab und ein paar Stallknechte tragen eine lange, dunkelverhüllte Last fort, der ein Pope folgt und der alte deutsche Arzt. Dann fällt die Tür zu.

Mit der verschiedenen Afanassia Iwanowa wird das alte Rußland zu Grabe getragen, ohne daß sich die Beteiligten dessen bewußt sind. Der Sohn der alten Frau hat seine Mutter nicht wiedergesehen, der junge Großfürst Alexander steht verloren auf der Terrasse vor dem Palast, die Rosenblüte als Signum seines Machtanspruchs in der Hand. Ein „scharfer Zugwind“ reißt die Blütenblätter von der Rose und verwirbelt sie. Die kommenden Generationen werden in das Flammenmeer hineingeboren. Die „Schlußapotheose” verheißt die Zukunft als Tragödie.

Als Künstlerin verfügte Agnes Miegel über das feinfühlige Sensorium, aufgrund von Wahrscheinlichkeiten Vorstellungen in die Zukunft zu projizieren, deren Konsequenzen sie wiederum in konkrete Bilder umzusetzen vermochte. Man kann auch sagen: Sie war mit seelischen Augen ausgestattet, die in die Zukunft blicken konnten und schließlich in Visionen Gestalt annahmen.

Diese sich tief im Unterbewußtsein abspielenden Vorgänge bilden einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Psyche und fließen ein in die literarische Gestaltung. In ihren Tagebüchern hat sie wiederholt derartige Visionen, mit denen sie das für uns Unsichtbare sichtbar macht, beschrieben. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg zeichnen sich in der Zeit von 1911 bis 1913 derartige Traumgesichte besonders schmerzhaft ab. Oft ist die Stadt Königsberg, die in die Zukunft verlegt wird, Gegenstand einer solchen Vision. So weist die Biographin Anni Piorreck auf eine Vision hin, die sich in den Tagebüchern aufgezeichnet findet. In den Worten Agnes Miegels:

„Ostpreußen ist ganz mit dem Baltikum vereinigt […] Königsberg ist eine große riesenhaft wachsende Stadt, die mit der langen breiten Hafenstraße bis zum Haff geht […] Die Straßen sehr breit, sehr hell (sind die gleichförmigen Häuser niedrig). Sie macht aber nicht mehr den Eindruck nur deutscher Bevölkerung, denn viele andere gehen darin herum: Letten. Litauer, sogar vereinzelt Mongolen – aber keine Polen!“ Im Falle eines anderen Traumes notiert Agnes Miegel: „Das sehr östliche Rußland, das bis nach Turkestan reicht, bedrängt uns“.

Wiederholt scheint es so, als ob sie in ihren Visionen die Wirklichkeit vorwegnimmt. In einem Beitrag für die Ostpreußische Zeitung vom 4. März 1923 berichtet sie, wie sie spielende Kinder am Pregel beobachtet. Plötzlich schiebt sich eine andere Szene in das Bild: Russische Kinder in anderer Kleidung und mit Bewegungen, die für deutsche Kinder nicht üblich sind, tummeln sich am Pregel. Diese Szene traf sie derart, daß sie diese Vision sogar in ihrem Zeitungsartikel einfließen ließ. Die damaligen Leser werden nicht wenig erstaunt gewesen sein, diesen Wechsel in ihrem vertrauten Feuilleton zu erfahren.

Neuer Pregel mit Kohl- und Fischmarkt in Königsberg. Bildquelle: GenWiki

Nach der Flucht verschwimmt die Grenze zwischen Leben und Tod. Mit ihrem festen Glauben an eine Wiedergeburt ist Agnes Miegel der Auffassung, in einer Generationskette zu stehen, in der die einzelnen Glieder vergehen und in anderer Form wieder auferstehen. In ihren Traumvisionen, die nach 1945 mit großen seelischen Schmerzen verbunden sind, sieht sie sich immer wieder in unterschiedlicher Gestalt, so auch als Sträfling in Sibirien, der zusammen mit vielen anderen aus dem Lager entlassen wird.

Ein besonderes Beispiel der Vorausschau teilt Agnes Miegel nach der Flucht der mit ihr befreundeten Hauswirtschaftslehrerin Margarete Haslinger mit. Diese Vision ereignete sich 1921, als die ›Ostpreußische Zeitung‹ sie nach Cadinen geschickt hatte, um von der Einweihung einer neuen Orgel zu berichten:

Er [Traum] dreimal, ganz deutlich, wie eine Vision, in keiner Einzelheit je vergessen. Ich sehe den Moskowiter Saal im Königsberger Schloß in tiefer Winterabenddämmerung, er wächst ins Ungeheure, in seiner Mitte steht ein Richtblock. Hand in Hand, im Reigen, umschreiten ihn feierlich riesige Frauen, gekleidet wie slawische Bäuerinnen, in weiten, bunten Röcken, losen Jacken, Kopftüchern. Sie singen dazu nach einer alten, eintönigen, schwermütigen Melodie auf russisch (ich verstehe aber Wort für Wort):

Wenn der hölzerne Mund rot schäumen wird,
O zarte Jungfrau,
Zerfleischen werden wir Dein Herz,
Aus der Brust Dir gerissen,
Es verschlingen wie Wölfe,
O zarte Jungfrau!

Eine baltische Lagerkameradin [im Internierungslager Oksböl] übersetzte mir das Lied fünfundzwanzig Jahre später aus dem Russischen, so wie ich‘s im Traum gehört hatte – und verstanden. Ich wußte, daß diese Jungfrau Ostpreußen meinte. Nie vergaß ich das Grauen, nie die fürchterliche, abgründige Trauer dieses Traums, nie die Worte des Liedes.

Höchst erstaunlich ist jedoch, wie Agnes Miegel das Geschehen in Ostpreußen wertet und in ihre Kosmologie einordnet. Am 8. August 1946 schreibt sie an die Schriftstellerinn Ina Seidel, die ihr eine lebenslange Freundin war:

Nein Ina, bedaure mich nicht. Ein Teil meines Herzens starb, als ich von Ostpreußen ging. Nur manchmal erwacht etwas. Und als ich neulich hörte, (ach, vielleicht war es auch bloß ein Gerücht –) daß viele hundert russ. Jungbauern hin sollen, habe ich zum ersten Mal vor Freude geweint – dann geht doch wieder ein Pflug über die wüsten Felder, in den leeren Dörfern werden Menschen wohnen, Kinder geboren werden, zwischen den Wiesen und Äckern spielen, Vieh wird brüllen, Hähne werden krähen – und die Erde wird leben.

Mit diesen Ausführungen nimmt Agnes Miegel den im Gedicht ›Kriegskind‹ vorgetragenen Gedanken wieder auf. Im Sinne der Schöpfungsordnung gilt die Bewahrung und Weitergabe des Lebens als unabänderliche Verpflichtung, die vom Menschen nicht mißachtet werden darf, stehen auch Regeln der Zivilisation dagegen. In diese Beziehung gliedert sich auch das Verhältnis des Menschen zur Erde ein.

Wie schon in der Erzählung ›Apotheose‹ das russische Landleben positiv dargestellt wurde, so stellt sich durch die Wiederbesiedlung des Landes nach den Kriegszerstörungen und den haßerfüllten Ereignissen eine natürliche Ordnung wieder ein, die im Prinzip nicht an die Nationalität gebunden ist. Daß es im sowjetischen Teil von Ostpreußen keine „Jungbauern“, sondern Kolchosarbeiter waren und daß sie weitgehend zwangsweise oder unter falschen Versprechungen dorthin delegiert wurden, war aus damaliger Sicht nicht zu erkennen.

Während sich in Deutschland Kritik und Feuilleton im Bereiche verirrt haben, die weit entfernt von der Literatur Agnes Miegel liegen, hat ein russischer Wissenschaftler unlängst eine Studie vorgelegt, die zu den besten der letzten Jahre zählt. Prof. Dr. Wladimir Gilmanov, geboren 1955 in Kaliningrad, lehrt an der ›Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität‹ und ist durch eine große Zahl von Publikationen als wissensreicher Kenner der Ostpreußischen Geschichte, Geistesgeschichte und Literatur hervorgetreten. Mit seinem umfassenden Werk ist er ein Beispiel für die Gültigkeit des Satzes von Agnes Miegel:

… Und daß Du, Königsberg, nicht sterblich bist!

In seiner Studie „Agnes Miegel in der dichterischen Phänomenologie des ostpreußischen Geistes“ kommt er zu einem Ergebnis, das beinahe wie ein Kommentar zu den Zeilen wirkt, die Agnes Miegel an Ina Seidel gerichtet hat:

… denn trotz der profunden Forschungstradition bleibt die poetische Stimme Miegels ein immerwährendes Geheimnis, dessen Wunder in einer ununterbrochenen Permanenz besteht. D.h. die Stimme lebt trotz der Wechselfälle des Landes, als ob eine sprachliche Urkraft dieser Stimme trotz der Polyphonie eine ortsgebundene, lebensrettende Symphonie bestimmt, die eines gemeinsamen Schicksals von den alten Prussen bis zu den heutigen Russen. Der mütterliche Logos des Landes!

Am 26. Oktober 1992 wurde in der Königsberger Hornstraße 7, der ehemaligen Wohnung Agnes Miegels, eine Gedenktafel in deutscher und russischer Sprache angebracht. Der Metallwert dieser Gedenktafel verlockte Räuber. Daraufhin wurde eine aus anderem Material gegossene Gedenktafel erneut angebracht. Diesmal führten jene Stimmen in Deutschland, die vor Politik das Werk nicht zu sehen vermochten, auf russischer Seite zu Irritationen, so daß auch diese Tafel entfernt wurde.

Nur sieben Hausnummern weiter befindet sich eine Gedenktafel für den Sergeanten Koloskow der Roten Armee, der bei den Kämpfen um Königsberg gefallen ist. Könnte die enge oder genauer: gestörte Nachbarschaft nicht ein Ausgangspunkt für ein Nachdenken sein? Die Beziehung Agnes Miegels zu Rußland ist tiefgründig und umgreift eine weite Spanne, die von der tiefenpsychologischen Sphäre bis zur literarischen Gestaltung reicht. Mehrere Faktoren prägen dieses Verhältnis. Es ist einmal das historische Interesse der Dichterin. Hinzu kommt der Blickwinkel eines Menschen, der im äußersten Nordosten Deutschlands beheimatet ist. Und schließlich ist die Erfahrung des Ersten Weltkrieges sowie von Flucht und Vertreibung von ausschlaggebender Bedeutung.

Aus der Sicht des „Ostlandes“ ist ihr das Wesen des russischen Menschen nicht fremd. Gläubigkeit, Opferbereitschaft, Wärme des Gefühls und das Verhältnis des russischen Bauern zu seinem Boden finden sogar ihre Sympathie. Hingegen rufen die gewaltige Ausdehnung und die politische Macht Rußlands ein Gefühl der Vorsicht hervor, das zwar kontrolliert, aber nicht zu unterbinden ist: Daß aus dem Machtbewußtsein eine Politik erwächst, die für Anrainer Gefahren heraufbeschwören könnte, lösen bei ihr Ängste aus. Diese manifestieren sich vielfach in Träumen und Visionen. Bemerkenswert an diesen Träumen ist, daß sie weder Haß noch feindliche Gefühle aufweisen. Vielmehr nehmen sie die vorausgeschauten Zustände ohne Auflehnung hin, gleichsam wie Dokumente des Leidens.

Diese Haltung erklärt sich aus ihrem Heimatbegriff, der ein fester Bestandteil ihrer Kosmologie ist. Auf der dem Menschen geschenkten Erde ist dessen Beziehung zum Boden entscheidend. In der literarischen Darstellung wird dies zum Bewertungskriterium. Darin ist sie so konsequent, auch den russischen Menschen einzuschließen.

Zweifellos wird die Lektüre von Agnes Miegels Werk, einen russischen und einen deutschen Leser, die um Verständnis bemüht sind, einander näherbringen.

Dieses Buch ›Agnes Miegel – Wort und Mythos‹ ist das Lebenswerk von Dr. Walter Torsten Rix. Er ist ein großer Verehrer der ostpreußischen Dichterin. Zum Ende des Jahres 2024 war das Werk vollendet, und vor wenigen Wochen im ›Verlag Ludwig‹ erschienen.

Das Buch führt in die Gedanken- und Wertewelt der Schriftstellerin Agnes Miegel (1879-1964) ein. Sie war eine Frau, die in einer weitgehend männlich bestimmten Zeit ihr Schicksal in die eigenen Hände nahm. In Königsberg/Pr. geboren, blieb sie der Heimat ihr Leben lang treu, vermochte sich jedoch gleichermaßen der Welt zu öffnen. Ihr Werk ist vielgestaltig: Es umfaßt neben zahllosen Feuilletonbeiträgen auch Lyrik, Balladen, Erzählungen, Märchen und Theaterstücke. Existenz war ihr eine ständige Wanderschaft, was in den zahlreichen Reiseberichten seinen Ausdruck findet. Sprache war für sie nicht in der Lage, die eigentliche Realität zu erfassen. Sie wählt daher den Mythos als Erkenntnisinstanz. Verwoben mit einer sorgfältigen Darstellung von Raum und Zeit sowie einer ganz eigenen Form von Religiosität, sind ihre Texte voller Dichte und Intensität. Ihr Studium macht deutlich, daß diese auch heute in einer globalisierten Welt nicht ohne Bedeutung sind.