Andrea Marcigliano

 

Ich entdecke Verse von Rilke. Ein kleines Gedicht, das ich nicht kannte. Januar. Ein Gedicht über diesen Monat. Ein seltener Schatz. Warum gibt es Gedichte über Weihnachten, über den Frühling, über die Sommermonate … nur nicht über den Januar? Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht an eines erinnern.

Es ist ein grauer, kalter, endlos langer Monat. Die Lichter der Feiertage sind erloschen. Und es bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.

Darauf zu warten, die Verlängerung des Tages zu spüren. Eine Sonne, die wieder wärmt. Wieder hinausgehen zu können, ohne sich ständig ankleiden zu müssen.

Die meisten von uns müssen drinnen bleiben. Wie unsere Vorfahren, die Bauern und Hirten. Die in den alten Zeiten diesen Monat nicht einmal in ihren Kalendern hatten. Es gab nichts, was sie hätten tun können. Man konnte nur warten, bis er vorbei war. Und hoffen, daß man überlebt.

„…der weiße Tag aber wird ewig, unendlich“, schreibt Rilke. Und er erfaßt die Elemente, zwei, die für diesen Monat wesentlich sind. Das Weiß als dominierende (Nicht-)Farbe. Sie ist absolut. Kaum gesprenkelt von den letzten Funken eines Holzscheits, das im Kamin zu Ende brennt. Und das Gefühl, daß sich die Zeit verlangsamt. Fast … bewegungslos.

Die Atmosphäre ist ausgesprochen … nordisch. Rilke stammte aus Prag. Ein deutschsprachiger Böhme. Wie Kafka. Und das Volk von Prag, hatte Goethe geschrieben, ist das traurigste Volk Europas.

Melancholisch. Wie der Monat Januar.

Und dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, gelingt es ihm, die verborgene Schönheit einzufangen.

Rainer Maria Rilke

(Januar Gedichte)

Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird,
und lauscht hinaus;
den weißen Wegen streckt sie die Zweige hin,
bereit und wehrt dem Wind
und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Eine Schönheit, die vielleicht hart und grausam ist. Sicherlich melancholisch. Eine Schönheit, ein Zauber, an der Grenze des Schreckens. All das strahlende Weiß … oh, das leuchtende Grau des Nebels. Ich habe oft gedacht, daß dies die Farbe des Todes sein muß. Nicht die schwarze. Wie in manchen fernöstlichen Kulturen, wo Weiß die Farbe der Trauer ist

Im Januar wirkt alles um uns herum in der Tat statisch. Die Natur scheint gelähmt und tot zu sein. In der Stadt ist das weniger offensichtlich. Dort ist alles künstlich. Verfälscht. Hier, wo ich bin, umgeben von Wäldern und Bergen, ist es eine Selbstverständlichkeit, die einem sofort ins Auge springt. Und die Kälte, die von Tag zu Tag bissiger wird, treibt dich nach drinnen. Oder in das Innere. Auf der Straße drängen sich nur wenige Menschen. Außerdem gibt es aufgrund der Tatsache, daß die Weihnachtsmärkte nun geschlossen sind, wenig Gründe, sich draußen aufzuhalten. Eigentlich überhaupt keinen.

Manchmal packt mich eine gewisse Schwermut. Und mein Herz zieht sich zusammen. Während ich hier stehe und meine Pfeife rauche. Ich schaue in den eisenfarbenen Himmel. Und auf die kalte Sonne, die manchmal hindurchscheint. Ein … seltsames Gefühl. Denn alles scheint unbeweglich zu sein. Und in der Tat tot. Und doch ist es, als würde ich ein verborgenes Zittern des Lebens spüren. Etwas drängt hinter diesem … Schleier hervor. Leben, würde ich sagen. Ein Leben, das inbrünstiger, intensiver ist als das Leben, das uns im Sommer umgibt. Das ist zwar das Leben, aber ganz und gar äußerlich. Und, wenn ich darüber nachdenke, nahe am herbstlichen Niedergang. Daher – der Tod.

Während hier, im gefrorenen Herzen des Januars, das Leben verborgen ist. Fast nicht wahrnehmbar. Aber es ist das Leben, das sich vorbereitet, sich zu entfalten.

Sie atmen leicht die hohen Tannen / eingeschlossen in der Schneedecke….

Wieder Rilke. Er fängt dort, wo andere nur Frost und Tod sehen, den Atem der Natur ein. Ein schwacher Atemzug. Fast nicht wahrnehmbar. Der jedoch sehr intensiv ist. Tiefgreifend. Er enthüllt, wie in einem Märchen, verwunschene unterirdische Reiche. Wo sich das Geheimnis der Wiedergeburt des Frühlings anbahnt. Und dann wird alles, der Schnee, der Frost, der kalte Wind, der graue Himmel … einfach nur schön.

Quelle: http://euro-synergies.hautetfort.com/archive/2023/01/08/janvier.html
Originalquelle: https://electomagazine.it/gennaio/