Emmanuel Todd
Ukraine-Krieg und globale Machtverschiebungen: Der französische Intellektuelle prophezeit verstärkte russische Vorgehensweisen. Das Land habe nicht viel Zeit.
Daß der Westen auf einem absteigenden Ast sitzt, ist als Diskussionsbeitrag nichts Neues. Die apodiktischen Vehemenz, mit der ihn der französische Intellektuelle Emmanuel Todd vorbringt, aber schon:
Wir erleben den endgültigen Untergang des Westens.
Ukraine-Krieg für den Westen verloren
Das fängt damit an, daß der Krieg in der Ukraine nach Todds Ansicht für den Westen bereits verloren ist. Todds Betonung liegt auf „den Westen”. Zwar sei der Krieg bisher nicht beendet, aber ein militärischer Sieg der Ukraine sei eine Illusion. Davon, so Todds Beobachtung, habe der Westen nun Abschied genommen –
nach dem Scheitern der Gegenoffensive im Sommer und der Feststellung, daß die USA und die anderen Nato-Staaten nicht in der Lage sind, der Ukraine ausreichend Waffen zu liefern.
Drei Faktoren für den Niedergang des Westens
Daran schließt er seine Analyse des Niedergangs des Westens an. Er erwähnt drei Faktoren, die er für ausschlaggebend hält.
Erstens: der industrielle Niedergang der USA, namentlich eine „unzureichende Ingenieurausbildung und ganz allgemein der Rückgang des Bildungsniveaus, der in den USA bereits 1965 einsetzte”.
Zweitens: das Verschwinden des US-amerikanischen Protestantismus, der nach seiner Auffassung zu einer Bildungsoffensive („Jeder soll selbst lesen”) und einer Arbeitsethik geführt hatte, die den Westen erfolgreich gemacht haben:
Der jüngste Zusammenbruch des Protestantismus hat einen intellektuellen Niedergang, ein Verschwinden der Arbeitsethik und eine Massengier (offizieller Name: ›Neoliberalismus‹) ausgelöst: Der Aufstieg kehrt sich in den Untergang des Westens um.
Der angloamerikanische Protestantismus hat ein Nullstadium der Religion erreicht, das über das Zombiestadium hinausgeht, und produziert dieses schwarze Loch. In den USA mutiert zu Beginn des dritten Jahrtausends die Angst vor der Leere zur Vergöttlichung des Nichts, zum Nihilismus.
Drittens: Die Unterstützer, die Rußland trotz der westlichen Anstrengungen, das autoritär geführte Land zu isolieren, in der Welt gefunden hat, sind ebenfalls ein Ausweis des westlichen Niedergangs.
Nicht zuletzt, weil der westliche Ansatz, wonach Rußland wirtschaftlich niederzuringen wäre, nicht funktioniert hat, und Rußland mit der wirtschaftlichen Stärke und mit seiner politischen Kultur auf traditionelle Einstellungen setzen konnte, innen wie außen:
Der dritte Faktor der westlichen Niederlage ist die Bevorzugung Rußlands durch den Rest der Welt. Dieses hat überall Wirtschaftsverbündete, wenn sie dies auch nur diskret zeigen, entdeckt. Eine neue konservative (Anti-LGBT) russische Soft Power lief auf Hochtouren, als klar wurde, daß Rußland wirtschaftlich mithalten kann.