Dr. Carlos Dufour
Jenseits der Politik steht niemand, es sei denn, er ist bereits tot. Da die Politik alle menschlichen Objekte umfaßt, bleibt nur die Entscheidung, ob man auch Subjekt sein will. Sagen wir es klar und deutlich: ›Metapolitik‹ klingt zu sehr nach Jenseits und endet oft diesseits der Politik: man reproduziert auf kultureller Ebene die Schwäche der politischen Gruppierungen, die überwunden werden sollten.
Deshalb wollen wir im folgenden den vorbelasteten Term ›Metapolitik‹ vermeiden und statt dessen von einem politisch bezogenen Kulturkampf sprechen.(1) Das Ziel einer solchen kulturellen Initiative ist selbstverständlich: durch eine Arbeit über Vorstellungen, Ideen, Überzeugungen, Begründungen u. v. m. die Politik vorzubereiten, zu begleiten oder zu verstärken. Andererseits sind manche Besonderheiten dieser Arbeit nicht mehr selbstverständlich, wie die Verwirrung mancher Stiftungsmacher ausreichend belegt.
Wenn man Strategie sagt, soll dies in gewissem Kontrast zur Taktik geschehen, obwohl beide Elemente sich durchdringen und der Unterschied graduell ist: oft müssen wir von eher strategisch und eher taktisch sprechen. Taktik ist eine Menge von Regeln über eine kurzfristige Abfolge von konkreten Manövern, die von der Situation abhängen. Strategie ist eine Reihe allgemeiner Richtlinien, welche die möglichen taktischen Schläge im Gesamtbild ordnen. Taktik kalkuliert, Strategie plant.
Taktik allein hängt vom Zufall ab, kann aber den Gegner empfindlich treffen und in aller Kürze das Gefecht entscheiden. Strategie allein erringt dagegen keinen Erfolg, sie muß vervollständigt werden – aber sie ermöglicht umfangreichere Siege auf sicheren Wegen. Punktuelle historische Beiträge (etwa der Nachweis einer Dokumentenfälschung) sind als taktische Errungenschaften anzusehen, zusammenhängende historiographische Projekte stufen wir als strategisches Unternehmen ein. Die geeignete Form, die Resultate bekanntzumachen, die Publizistik, ist wiederum eine Angelegenheit eher taktischer Natur.
Beschränkung und Reichweite
Ein bekannter Streit. Für manche bestimmen die Ideen die Realität, für andere ist es umgekehrt. Für manche muß man sich zuerst auf die erfolgreiche Verbreitung der Ideen konzentrieren und erst dann an die Macht denken. Die anderen erwidern, daß eine erfolgreiche Verbreitung der Ideen bereits eine gehörige Portion Macht verlangt. Also erschallte unermüdlich die Frage: was ist zuerst zu unternehmen, Politik oder Metapolitik? Aber so lange die Positionen so formuliert werden, ähnelt alles der alten Streitfrage, ob zuerst die Henne oder das Ei da war.
Eine kulturelle Strategie kann einiges leisten, aber der Realist berücksichtigt ihre Beschränkungen. Wie gesagt, muß man taktische Elemente im Auge behalten, die immer situationsbezogen sind. (2) Ferner gibt es im Kulturprozeß einen langen Weg zwischen Input und Output, währenddessen ist die kulturelle Strategie auf externe Faktoren angewiesen. Die Abhängigkeit von Finanziellem, Gesellschaftlichem und Politischem steht außer Frage. Hauptsächlich sollte man die intellektualistische Fehleinschätzung, die manche Anhänger der alten Metapolitik begünstigt haben, definitiv aus der Welt schaffen.
Zu sehr an Gramsci orientiert, nahmen sie Nietzsche und Pareto kaum zur Kenntnis. Sie dachten an ein kleines Modell, nämlich die Erklärung von individuellen Handlungen durch Überzeugungen, und extrapolierten es auf die Politik. Nehmen wir an, daß Sie auf ein Rennpferd, Sonnenpfeil, wetteten. Anscheinend erklärt man Ihre Entscheidung vollständig, wenn man anführt, daß Sie der Überzeugung waren, Sonnenpfeil würde das Rennen gewinnen. Zusätzlich nimmt man an, der Intellekt liefere die Gründe für Ihre Überzeugung. Wird dieses Erklärungsschema verallgemeinert, verfällt man leicht der Annahme, daß eine intellektuelle Beeinflußung der Überzeugungen langfristig die Macht mit sich bringt.
Aber weder stimmen die zwei Prämissen, noch sind sie ausreichend für den intendierten Schluß.(3) Eine Überzeugung kann eine Handlung nur bestimmen, wenn u. a. ein entsprechender Wunsch besteht. Falls Sie ein Bettelmönch sind und in Armut leben möchten, wird die Überzeugung von der Tüchtigkeit Sonnenpfeils Sie nicht zum Wetten veranlassen.(4)
Auch wenn Überzeugungen und Wünsche menschliche Handlungen erklären könnten, ist damit nicht gesagt, daß solche Vorstellungen (Überzeugungen und Wünsche) in der Regel intellektuell beeinflußbar wären. Diese Vorstellungen können in Instinkten, Neigungen, Lebenslauf und biologischen Anlagen wurzeln, die nicht mehr durch Argumente zu erschüttern sind. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Gruppe, einer Rasse, einer Generation oder einem Geschlecht erzeugt und festigt manche Vorstellungen, macht sie von jeder Begründung unabhängig und gegen jede Widerlegung immun.
Für die Mehrheit der Menschen sind Ideen grundsätzlich nicht Träger von Wahrheit und Falschheit, sondern ein Zeug, das sich als nützlich, wohltuend, schmerzhaft, bequem oder unbequem, elegant oder altmodisch auswirken kann. So ist für die Mehrheit der Gebrauch einer Idee nicht anders als der eines Hutes, eines Parfüms oder eines Aspirins. Daher wollen wir mit der ›Kraft der Ideen‹ nicht übertreiben. Gewöhnlich greift man zu Ideen wie zu Konsumgütern eigener Art.
Ob wir es wollen oder nicht, erweisen sich Institutionen als stärker denn Ideen. Es gab eine Zeit, wo der Marxismus-Leninismus als Lehre mächtig war und sogar im Westen mit wohlwollender Aufnahme rechnen konnte – aber kaum verschwindet die Sowjetunion, wird diese Lehre zur Antiquität, die nur ein paar Außenseiter ernst nehmen. Freilich hat die Aufklärung die Lehren der Kirche in Bedrängnis gebracht, aber die Kirche als Institution bleibt bestehen. Diese Beschränkungen zeigen, daß die Ideen nicht allmächtig sind. Wenn wir die Illusionen darüber verlieren, können wir uns endlich ganz nüchtern an die Arbeit machen.
Dazu setzen wir nur folgendes voraus:
◊ Bei manchen Menschen sind manche Vorstellungen immer intellektuell beeinflußbar.
◊ Viele Menschen lassen sich durch die (verkörperten) Vorstellungen anderer Menschen beeinflußen.
◊ Auch wenn Institutionen mächtiger sind als Ideen, bilden Ideen einen Teil ihrer Macht, auf den sie nicht verzichten können.
◊ In Krisenzeiten geraten Institutionen unter Legitimationzwang.
◊ Unter Legitimationszwang wächst die Macht der Ideen.
◊ Es mehren sich die Anzeichen, daß wir auf eine Krisenzeit zusteuern.
Daraus ergibt sich, daß auch unter realistischer Erwägung aller Beschränkungen eine kulturelle Strategie in absehbarer Zeit Machtverhältnisse beeinflussen kann. Für einen kulturellen Kampf sollen, wie für jede Konfrontation, stets folgende vier operative Grundregeln gelten:
◊ Bestimme die Stärken und Schwächen des Gegners.
◊ Versuche seine Schwächen auszunutzen oder seine Stärken zu verringern.
◊ Überprüfe deine eigenen Stärken und Schwächen.
◊ Versuche deine Stärken auszubauen / deine Schwächen zu mindern.
Wir werden dies später veranschaulichen, aber zuerst ist anzugeben, wie die methodischen Phasen der Arbeit aussehen.
Assimilation und Propaganda
0. Abgrenzung der Interessenbereiche
Menschliche und materielle Ressourcen sind begrenzt. Ausgangspunkt für die Effektivität der kulturellen Arbeit ist eine Selektion, eine Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem. Dies wird mehr oder weniger entschieden durch die Natur der Gruppe und den Willen ihrer Mitglieder, mit ihren Interessen und Fähigkeiten, ihrer Begeisterung usw. Man merke: a) eine gewisse Flexibilität in den Interessensthemen ist beizubehalten;(5) b) man sollte Themen in Subthemen anordnen und gliedern, danach Prioritäten setzen.
1. Bestimmung der offenen Fragen
Dieser Schritt 1 ist schon schwierig, denn er ist nicht mehr wie 0 eine Frage der Entscheidung, sondern des Wissens. Nur jene, die Kenntnis der spezifischen Literatur bzw. des Standes der Forschung besitzen, können bestimmen, welche offenen Fragen noch vorhanden und welche Probleme schon endgültig gelöst sind.(6) Dann geht man so vor:
1a Dort, wo Resultate feststehen, gilt es, sie zu assimilieren, zu lehren, zu verbreiten oder polemisch zu verwerten. Dazu muß die Taktik die Mittel näher bestimmen.(7)
1b Dort, wo noch offene Fragen bestehen, muß man sich bemühen, sie mit maximaler Deutlichkeit darzustellen und ihre Relevanz zu ermessen. Dann geht man zu Schritt 2 über
2. Risikoabwägung
Echte Forschung kann Ergebnisse nicht garantieren. Da muß die Gruppenleitung abwägen, wieviel Zeit und welche menschlichen sowie finanziellen Ressourcen das Projekt beansprucht. Stehen die Chancen zu einer Lösung relativ gut, geht man + zu Schritt 3 über. Sonst kehrt man zur Suche einer anderen Frage zu Schritt 1 zurück.
3. Spezifische Vorarbeit
Man unterscheidet zwischen allgemeinen Kenntnissen und partikulärer Information, welche zur Lösung der Frage beitragen könnten.(8) Dieses Wissen wird schnell und intensiv durch Eliteschulung vermittelt, dann geht man zu Schritt 4 über.
4. Lösungsversuche
Man stimuliert eine interne Diskussion (durch Seminare, Tagungen), bis Lösungsansätze gefunden werden. Sind sie in der vorgesehenen Zeit nicht befriedigend ausgearbeitet, wird das Material archiviert und man geht + zu 1 zurück. Sind sie stichhaltig, geht man zu Schritt 5 über.
5. Öffentliche Diskussion
Jeder Lösungsvorschlag wird Einwände finden und neue Fragen aufwerfen, das heißt, im Idealfall kehrt man mit positiver Rückkoppelung zu Schritt 1 zurück, und der Kreis rollt wieder.(9)
Abschließende Anmerkung zum Forschungsprogramm
Selbstverständlich deckt die hier beschriebene Routine nicht, was spontan und genial ist. Aber man kann nicht erwarten, daß in jeder Generation ein Nietzsche entsteht: Der Fleiß von vielen muß kompensieren, was sonst die Eingebung eines Kulturhelden vermag. Es ist nicht notwendig, das ganze Programm zu durchlaufen, um beachtliche Ergebnisse zu erzielen. In vielen Fällen würden schon die ersten Schritte für eine kulturelle Tätigkeit mit Schlagkraft ausreichen.
Handlungen sind an sich vernünftig, wenn durch ihre regelmäßige Wiederholung die Wahrscheinlichkeit wächst, die erstrebten Ziele zu erreichen. Will jemand Wohlstand, würde die wiederholte Ausfüllung eines Lottoscheins das Ziel nicht wahrscheinlicher machen. Hart Arbeiten, Geld sparen und es gut anlegen, käme der Sache schon näher. In diesem Sinne beansprucht dieses Forschungsprogramm Vernünftigkeit.
Die folgenden Beispiele dienen nur der Veranschaulichung der operativen Grundregeln von § 2 und der ersten Schritte von § 3. Man sollte sie so verstehen: Wären die Themen dies und jenes, sollte man so und so vorgehen. Folglich gelten diese Beispiele nicht als Festlegung einer bestimmten Forschungslinie oder als Vorwegnahme des Ausgangsschrittes (0), der innerhalb einer Gruppe geschehen muß.
Bibelkritik
Eine Schwäche des systemerhaltenden Denkgebäudes liegt in seinem Bündnis mit den Offenbarungsreligionen; also gilt es nach den operativen Grundregeln (oben § 2), diese Schwäche auszunutzen. Von Reimarus über Lessing, Strauß usw. bis Loisy, Harnack, und Albert Schweitzer etablierte sich in der Theologie die Bibelkritik − mit fatalen Folgen für das Judenchristentum. In diesem Bereich gibt es reichhaltiges Material, das als absolut gesichert gelten kann. Dieses Ergebnis wird in der Regel totgeschwiegen oder vernachlässigt, so daß eine Assimilation und Verbreitung wünschenswert ist. Eine klassische, prägnante Zusammenfassung findet man in Thomas Paine The Age of Reason, und vermutlich wird das demnächst erscheinende Werk von Vial & Hagel in dieser Absicht verfaßt sein.
Man betrachte dies nicht als Detail für Gelehrte: Sind zwei Stellen der Bibel unverträglich (Paradebeispiel: die Genealogien Jesu bei Matthäus und Lucas),(10) muß mindestens eine falsch sein, womöglich auch beide. Aber somit wird der Begriff einer göttlichen Offenbarung erschüttert: Was für einen Sinn hat eine Offenbarung, die Wahres und Falsches vermengt? Warum sind die christlichen Kirchen nicht in der Lage, das Falsche einfach wegzunehmen? Und würden sie es wagen, welche Kriterien würden sie anwenden? Selbstverständlich nicht eine neue Offenbarung − aber was denn? Dieses Problem zeigt, warum sich Kirchen und Theologen im Notfall auf Moralisches oder angeblich Metaphysisches zurückziehen und kleinlaut werden. Aus dem Notfall sollte ein Normalfall werden.
Andererseits bleiben in diesem Bereich viele offene Fragen, deren Beantwortung den Ursprung des Christentums in neues Licht rücken könnte. Stehen wir vielleicht vor einer reinen Legende? Könnte es sein, daß die Gnosis keine Ketzerei war, sondern eher das Christentum eine Ketzerei innerhalb der Gnosis? Was ist, wenn die paulinischen Briefe ursprünglich den Gnostiker Markion aus Sinope als Verfasser hätten? (11) Eine Gruppe mit kompetenten Philologen und Historikern hätte gute Aussichten, neue Ergebnisse zu Tage zu fördern.
Links: Anthony Kenny Mitte: Louis Rougier
Philosophie der Religion
Eine Stärke des Christentums ist seine theologisch-philosophische Systematik. Nach den operativen Grundregeln gilt es also, diese Stärke zu untergraben. Unter dem Einfluß des Mißerfolgs des Vatikanischen Konzils, der Machtzunahme des ›Opus Dei‹ und der Anleitung der letzten Päpste vollzog sich eine faktische Rückkehr zum Fundamentalismus. Dazu dient eine Wiederbelebung des Thomismus als philosophische Deutung und Apologetik des Christentums.
Es gibt bereits gutes Material zur Kritik des Thomismus bei Louis Rougier und Anthony Kenny, aber es reicht nicht aus. Kenny wollte seine Kritik moderat halten und Rougier hatte sich zu sehr an manche Annahmen des Wiener Kreises angelehnt, die heute problematisch geworden sind. Offene Frage: Ist eine interne Kritik des Thomismus möglich, die keine Voraussetzungen macht und trotzdem vernichtend ausfällt? Dies ist eine Frage, die mit geeigneten Personen und sparsamen Mitteln gelöst werden kann.
Kommunitarismus
Im Kommunitarismus besitzen wir eine potentielle Stärke, die es auszubauen gilt. Das Werk von Alasdair McIntyre ›After Virtue‹ hat in Deutschland kaum eine gebührende Rezeption erfahren, und er ist im sogenannten ›nationalen Lager‹ praktisch unbekannt. McIntyre macht ein dramatisches Gedankenexperiment: nach einer ungeheuren Katastrophe rottet die Menschheit die Naturwissenschaft aus; Bücherverbrennungen und Massaker an Akademikern vervollständigen die Zerstörung.
Aber die Zeit vergeht, andere Generationen wollen das alte Wissen anhand von unzusammenhängenden Bruchstücken wiedergewinnen: Kinder lernen Fragmente mit Logarithmen auswendig, Teile der Tabelle des periodischen Systems; alle verehren physikalische Geräte, deren Zweck niemand kennt, wie Reliquien. Die Erwachsenen diskutieren über die wahre Bedeutung von rätselhaften Termini wie Elektron, Masse und Phlogiston.
Laut McIntyre ist dies tatsächlich, was mit den Moraltheorien ab der Neuzeit passiert ist. Sein Werk ist somit eine Kritik der Moderne in einem Ausmaß, das eines Evolas würdig wäre, aber frei von Esoterik und Spekulation; der Individualismus samt seiner analytischen Philosophie gilt als der Feind.
Die offene Frage ist, was an diesem Werk Gültigkeit für eine politische Theorie besitzt und was wackelig und übertrieben ist. Soweit ich weiß, hat sich bis jetzt noch niemand im alternativen Milieu der Aufgabe ernsthaft angenommen.
Links: Helmut Diwald
Wirtschaftskritik
Das bestehende System leitet seine Kompetenz aus der Wirtschaft ab, was zugleich die Achillesferse aller Rivalen darstellt. Wirtschaft ist zugleich unsere Schwäche und die Stärke des Gegners (+ vgl. oben: Grundregeln). Man diskutiert relativ oft über alternative Wirtschaftssysteme, z. B. die Freiwirtschaft von Silvio Gesell oder eine (nicht näher erörterte) raumorientierte Wirtschaft. Es fehlt jedoch ein radikalerer Ansatz, eine Prüfung der Grundlagen, etwas, was wir − in Anlehnung an Kant − als Kritik der wirtschaftlichen Vernunft bezeichnen dürften. Denn welchen Status hat die Wirtschaftslehre als Wissen? Ja, viel Mathematik steckt üblicherweise darin, aber das reicht zur Wissenschaftlichkeit nicht aus.
Hier nur ein Wink, um die Richtung der Untersuchung anzudeuten. Wenn jemand sagt, schwarze Katzen sind schwarz, sagt er etwas absolut Wahres, aber auch absolut Uninformatives (trivial analytisch, tautologisch). Sagt er dagegen, schwarze Katzen bringen Unglück, ist seine Aussage nicht mehr trivial (sie ist synthetisch), aber nur eine empirische Überprüfung kann über ihren Wahrheitswert entscheiden.
Nun nehme man Grundgesetze der Wirtschaft, etwa das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Je nachdem, welche Formulierung man wählt, besagt es, daß in einem freien Markt der echte Preis einer Ware (bei gleichbleibendem Angebot) mit der Nachfrage steigt. Ist diese Aussage das Ergebnis einer empirischen Untersuchung? Oder ist sie eine analytische Aussage? (12)
Kurz: Was ist der epistemische Status der Grundgesetze der Wirtschaft? Hier können wir nicht auf Anhieb sagen, welche Fragen bereits gelöst sind. Und doch hängt eine fundierte Arbeit über alternative Wirtschaftssysteme davon ab, daß wir uns darüber Klarheit verschaffen. Vielleicht ist in diesem Fall das Forschungsrisiko zu groß, und man sollte am besten die Frage durch eine verwandte aber bescheidenere ersetzen.
Gegenchronologie
Eine Stärke des herrschenden Weltbildes ist seine Standardgeschichte. Gibt es da einiges zu erschüttern? Hellmut Diwald bemerkte, daß sich in der Historie Chronologie und Methodologie entgegensetzen: Wir haben feste Daten über die Gegenwart und daraus erschließen wir die Vergangenheit mit Hilfe mehrerer Vermutungen. So schrieb er 1978 eine Geschichte der Deutschen, wo die Darstellungsweise chronologisch invertiert war.1996 erschien das Werk von Heribert Illig ›Das erfundene Mittelalter‹. Hier war die Gegenchronologie Sache des Inhalts, nicht der Darstellungsform. Illig vertrat die erstaunliche These, in unserer Zeitrechnung seien fast drei Jahrhundert zu viel eingebaut, vermutlich zwischen 600 und 900.
Die konventionellen Historiker konnten nichts widerlegen, da Illig nicht nur auf die dokumentarische Lücke verwies, sondern auch ein astronomisches Argument aus der gregorianischen Kalenderreform 1582 anführte sowie andere bemerkenswerte Betrachtungen aus Architektur, Literatur und Numismatik. Auch wenn Illigs astronomische Erwägungen entkräftet werden könnten, bleiben genug Rätsel.
Kurz darauf ging Uwe Topper in ›Die Große Aktion‹ (1998) viel weiter und stellte die klassische Antike in Frage. Dabei bildete er eine Parallele zur russischen Antichronologie,(13) nur daß sein Hauptbezug Figuren wie Jean Hardouin (1646–1729),(14) Robert Baldauf und Wilhelm Kammeier waren. Toppers Ergebnisse sind überzogen, und oft entsteht der Verdacht, daß er Hauptwerke, wie die Schriften von Hardouin, nur aus zweiter Hand kennt. Trotzdem zeigt er Indizien und Anomalien auf, welche die etablierte Geschichtsschreibung anscheinend nicht gut erklären kann.
Links: Jean Hardouin Mitte: Herbert Illig
Wie ist die Lage tatsächlich? Hier sollte man die Quellen orten, definitiv sichern und gewissenhaft untersuchen. Die Chancen für die Arbeit stehen gut, der Aufwand der Forschung würde sich in Grenzen halten und die Relevanz steht außer Frage. Mit den obigen Ausführungen sind die Übertreibungen der alten Metapolitik korrigiert, die wachsende Bedeutung der kulturellen Arbeit dargelegt, die Richtlinien einer geeigneten kulturellen Strategie skizziert und veranschaulicht.
Anmerkungen
(1) Wir werden hier Kultur ausschließlich unter dem Aspekt des Wissens erfahren. Von der Problemaik der Kunst, symbolischer Handlungen usw. wird abgesehen.
(2) Z. B. ist das Europa der siebziger Jahre mit seinem relativen Wohlstand und seiner Muße vorbei, die Rezeptivität des Publikums geringer.
(3) Nämlich die zwei Prämissen, a) daß Überzeugungen Handlungen vollständig erklären und b) daß intellektuelle Erwägungen die Überzeugungen verursachen. Jedoch sind (a) und (b) auch nicht ausreichend für den Schluß. Dazu sollte man noch die fragwürdige Prämisse hinzufügen, c) daß die Ansammlung der individuellen Handlungen die Machtverhältnisse bestimmt. Aber es könnten andere (kollektive) Kräfte im Spiel sein und die Resultante der individuellen Handlungen unvorhersehbar machen.
(4) Die Intellektualisten erwidern, daß die Überzeugung ,,Geldbesitz ist gut“, den Wunsch nach Geld verursacht; so wären Wünsche letztendlich auf Überzeugungen zurückführbar. Aber wir verstehen es gerade umgekehrt: weil Sie sich das Geld wünschen, sind Sie überzeugt, Geldbesitz sei gut.
(5) Das Wetter und die Meteorologie sind an sich kein politisches Thema, aber wenn es um Klimawandel geht und dadurch Argumente für den Globalismus aufgestellt werden, dann haben sich die Verhältnisse geändert. Ob Einstein den Poincaré plagiiert hat, ist ein Detail der Wissenschaftsgeschichte − aber wenn dadurch eine Verwicklung der Wissenschaft als Institution mit manchen politischen Mächten aufgedeckt wird, dann ist die Situation ganz anders.
(6) Im Normalfall ergibt sich diese Information aus den wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Sonst muß man über Internet gründlich recherchieren und die Ergebnisse kritisch prüfen.
(7) Dabei spielen eine wichtige Rolle Rezensionen, Lehrbücher, Schulungen, Seminare, Übersetzungen, wissenschaftliche, weltanschauliche oder journalistische Aufsätze, Datenbanken, Essais, Projekte wie ein ›identitärer Katechismus‹, Anthologien, ein Lexikon der Hauptwerke (etwa wie der Kindler, freilich stark komprimiert). In praktischer Hinsicht gibt es die Initiative von G. Adinolfi, entsprechende Gesetzgebungen vorzubereiten.
(8) Dies würde in einer funktionierenden Universität den Vorlesungen und Hauptseminaren entsprechen.
(9) Aber hier stellt sich ein Problem taktischer Natur: die Schaffung einer geeigneten Öffentlichkeit. Da vermutlich wissenschaftliche Zeitschriften Beiträge unsererseits prinzipiell ablehnen werden, sind Wege zu finden, damit diese Diskussionen doch stattfinden können.
(10) Die klassische Stelle für die Erörterung des Problems findet man bei Strauss, Das Leben Jesu, Band I, 17. Während Lukas (Lk 3. 23-32) nicht weniger als 41 Generationen von David bis zu Joseph zählt, sind sie für Matthäus nur 26 (Mt 1:6-17).
(11) Wer sich für die Problematik interessiert, kann unter: http://www.hermann-detering.de die Radikalkritik zur Kenntnis nehmen.
(12) Das Subjekt ›echter Preis im freien Markt‹ verhielte sich dann im angeblichen Gesetz wie das Subjekt ›schwarze Katzen‹ in ›alle schwarzen Katzen sind schwarz‹, wo das Prädikat nicht Neues hinzufügt und keine Information vermittelt.
(13) Vgl. auch: http://www.new-tradition.org/view-garry-kasparov.htm
(14) Der Jesuit Harduinus leitete die königliche Bibliothek und erhielt den Auftrag, sämtliche kirchlichen Konzilsakten zu ordnen und herauszugeben. Er hielt viele Werke der Antike, Bücher der Kirchenväter und Dokumente der früheren Kirchenzeit (sogar die griechische Version des Neuen Testamentes) für Fälschungen aus dem 13. Jahrhundert. Im Jahr 1709 mußte Hardouin seine Thesen widerrufen. Wie auch immer kann ich aus meinen Fachstudien in Mediävistik mehrere Anomalien bezeu-gen. Z. B. wurde das pantheistische Werk De Divisione Naturne von Scotus Eriugena (ca. 810-877) erst 1225 durch die Kirche verdammt. Es verwundert auch, daß das Latein des 12. Jahrhunderts (etwa bei Abaelardus) viel entwickelter ist als das des 13. Jhds. Zuletzt erwecken die Werke von Duns Scotus den Eindruck, daß die Manipulationen im 14. Jhd. die Regel waren.
Beitragsbild: Antonio Gramsci, ᛉ 22. Januar 1891 in Ales auf Sardinienᛣ 27. April 1937 in Rom
Die Flucht nach vorn. Gramscis metapolitische Wandlung
Gefährte Carlos Dufour
Die Systemfrage
Elemente zur Aufhebung des Christentums
Nietzsche begreifen
Carlos Dufour, Das Wesen des Systems