Ökologie, Philosophie

Nietzsche spürt Nihilismen auf, selbst bei Umweltschützern

Pierre Le Vigan

 

Wenn Nihilismus nach Nietzsche das Verneinen der Bedeutung höchster Werte – aristokratische Werte – ist, dann ist es auch das Verneinen des Werts des „Seienden“. Doch das Seiende ist die Erde, die Natur. Daher präsentieren einige Nietzsche als einen ökologischen Denker, vielleicht sogar als einen Ökologie-Pionier. Es ist jedoch, wie immer, komplexer als das. Es ist gleichzeitig klarer als jede Vereinfachung von Nietzsche zu simplen Parolen.

Nietzsche ist ein Perspektivist. Man darf  das – buchstäblich – nicht aus den Augen verlieren. Daher interessiert er sich nicht für die Natur an sich. Er hat nicht die Naivität zu denken, daß wir die Natur losgelöst von unserer Wahrnehmung betrachten können. „Que la montagne est belle“ (Wie schön ist der Berg), singt Jean Ferrat. Natürlich. Er ist schön aus der Sicht des Menschen. Aus der Sicht der Natur ist der Berg einfach da. Und das ist alles. Es läßt sich nichts anderes darüber sagen. „Es ist“, sagte Hegel.

Was Nietzsche an der Natur interessiert, ist in erster Linie ihre Vielfalt. Sie ermöglicht es dem Menschen, sich auf verschiedene Klimazonen einzulassen und einzutauchen, das heißt auf verschiedene Landschaften, Lebensbedingungen, Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit und so weiter. Was Nietzsche interessiert, ist, daß die Natur das Leben ist. Sie ist nicht statisch, sondern erneuert sich ständig. In diesem Sinne ist sie nach Nietzsche ein Spiegelbild des Menschen. Und in der Tat ist es der Mensch, der die Natur widerspiegelt, wenn wir für einen Moment die Perspektive wechseln.

Schließlich kann uns Nietzsche dabei helfen zu verstehen, daß der Nihilismus auch in unserer gestörten Beziehung zur Natur liegen kann. Diese Beziehung kann auf verschiedene Arten verdreht werden. Eine Möglichkeit besteht darin, die Welt zu beherrschen. Die Natur wird dazu benutzt, ohne Respekt und ohne Grenzen ausgebeutet zu werden. Dies wird von Günther Anders und Martin Heidegger angeprangert.

Nihilismus findet sich auch in einer Weltuntergangsperspektive aufgrund ökologischer Probleme. Die Menschheit wird verschwinden. Gut, daß wir sie los sind“, verkündete Yves Paccalet 2007 (wobei man sich von der provokanten Art des Autors angesichts der sehr realen Zerstörung der Erde nicht beirren lassen sollte). Dies führt zu Positionen, die den Menschen als Ursache aller Probleme betrachten und daher fordern, daß wir aufhören, uns fortzupflanzen, besonders in Europa. Das Ziel: den weniger „entwickelten“ Völkern zumindest mehr Raum und Ressourcen zu lassen, allenfalls ganz zu verschwinden.

Yves Paccalet, Naturforscher, Philosoph, Buchautor

Ein umgekehrter Prometheanismus

Von diesem anti-menschlichen ökologischen Standpunkt aus ist Nietzsches „letzter Mensch“ nicht nur die niedrigste Form des Menschen; er ist ganz einfach der letzte, der vor dem vollständigen Verschwinden der Menschheit übrig bleibt. Die Tür hinter sich schließen, bitte! Ob man die Erde nun ausschließlich als Ressource betrachtet, die es auszubeuten gilt, oder im Gegenteil als „Natur“, die es zu schützen gilt, indem man sie vom Menschen befreit, verfehlt in Wirklichkeit das Wesen der Stellung des Menschen in der Natur.

Die Erde kann den schlimmsten menschlichen Verwüstungen widerstehen. Sie wird fortbestehen, solange der Kosmos sie nicht verbrennt, abkühlt oder auflöst. Was die Menschen durch die Vernachlässigung der Ökologie verändern, ist nicht der Planet selbst, sondern unsere Beziehung zu ihm. Es ist die Erde an sich. Eine verschmutzte, ausgelaugte, überbevölkerte und überminierte Erde ist einfach eine häßliche Erde. Sie ist nicht von Natur aus häßlich – denn die Erde reflektiert nicht über sich selbst. Sie ist häßlich für uns. Ihre Häßlichkeit beruht auf der menschlichen Wahrnehmung. Sie läßt uns die Schönheit verlernen. Sie beraubt uns des Gefühls, daß die Welt von Göttern bewohnt ist und nicht nur von Menschen.

Es gibt also zwei Formen des Nihilismus, die es zu vermeiden gilt, und das ist es, was Nietzsche uns zu verstehen hilft. Die eine ist der Nihilismus des schieren Raubbaus, bis die Erde erschöpft ist. Die andere ist der Nihilismus des Selbstmords der Menschheit(en) zur angeblichen „Rettung des Planeten“. Ein umgekehrter Prometheanismus, aber dennoch Prometheanismus.

Selbst in dem Wunsch, sich selbst zu vernichten, sieht sich der Mensch als Gott (vor allem in diesem Zusammenhang). Die ›Cancel-Kultur‹: eine Kultur der Auslöschung. Am Ende und auf dem Höhepunkt des ›Wokismus‹, der sein jüngeres Geschwisterchen ist, steht die Auslöschung des Menschen selbst.

Um diese beiden Nihilismen zu vermeiden, weist uns Nietzsche auf einen anderen Weg hin. Es ist die Einbeziehung des Menschen in die Natur. Wir müssen die Natur respektieren, indem wir uns selbst respektieren. Respekt bedeutet nicht Enthaltung. Die Natur ist weiblich. Respekt bedeutet, nicht achtlos mit ihr umzugehen.

Der Mensch ist ein Teil der Natur, was ihm eine Beziehung verbieten sollte, die nur auf Konfrontation oder Instrumentalisierung beruht. Unser Blick auf die Natur ist nicht natürlich, er ist menschlich. Das ist es, was Nietzsche uns zu begreifen lehrt. Das könnte der „Übermensch“ sein, der nicht „Superman“ ist, sondern ein Mensch, der sich bewußt ist, daß er ein Produkt der Natur ist, eine Blüte des Lebens.

Augustinus von Hippo

Von Göttern und Menschen

Was lehrt uns die Natur? Daß das Leben immer seinen Weg sucht. Daß es sich dem widersetzt, was es verneint. Das ist die „Negentropie“ (immer mehr Organisation, „immer mehr Institutionen“, wie Hegel sagte). Der Mensch steht bei Nietzsche nicht im Zentrum der Natur. Wir befinden uns nicht in Genesis: 2-15: „Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ 2-16: „Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen des Gartens“.

Wir befinden uns nicht im Christentum als Doktrin (auch wenn wir teilweise in seiner Zivilisation stehen, ob wir wollen oder nicht). Wir verlassen den ›Anthropozentrismus‹ oder ›Theozentrismus‹, was auf dasselbe hinausläuft (Theozentrismus ist immer ein Monotheismus).

Bei Nietzsche ist der Mensch Teil des Gartens. Er kann seinen Platz dort nicht auf der Grundlage eines Gegensatzes zwischen der ›irdischen Stadt‹ und der ›Stadt Gottes‹ einnehmen, wie Augustinus von Hippo: „Zwei Lieben haben also zwei Städte gebaut: die Liebe zu sich selbst bis zur Verachtung Gottes, die Stadt der Erde, [und] die Liebe zu Gott bis zur Verachtung seiner selbst, die Stadt Gottes.“

Nietzsche steht entschieden außerhalb dieses dualistischen (und kastrierenden) Schemas. Ganz im Gegenteil zu dieser Opposition muß der Mensch das Heilige auf die Erde und in die Welt bringen, eine Heiligkeit, die etwas ganz anderes ist als die abwegige Religiosität der Monotheismen (sei es egalitär und universalistisch oder suprematistisch). Das ist es, was Nietzsche uns sagen wollte. Und was er mit seiner letzten Geste als Lebender bezeugte: ein leidendes Pferd zu umarmen. Seine letzte Geste: eine Geste der Liebe zum Leben.

Weder die Erde noch der Mensch dürfen ins Nichts zurückgeführt werden. Die Götzendienerei der Erde muß ebenso abgelehnt werden wie die Selbstvergötterung eines satten und zufriedenen Menschen (Der „auto-thé“-Mensch, sagt Péguy in ›Zangwill‹, 1904). Wir werden den „letzten Menschen“ aus Nietzsches Zarathustra erkannt haben.

Genauso wie wir uns der Anbetung eines bösen und tyrannischen Gottes verweigern müssen, müssen wir unsere Vorstellungswelt mit Göttern bevölkern, die die Geheimnisse der Natur hüten, und diese reichen von den Tiefen der Mutter Erde bis zu den entferntesten Himmeln.

 

 

Quelle: https://arktos.com/2023/08/23/nietzsche-and-ecology/
Originalquelle: https://www.revue-elements.com/nietzsche-debusque-les-nihilismes-meme-chez-les-ecologistes/

 

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