Marcello Veneziani
„Unzufriedenheit“ ist das dunkle Übel unserer Zeit. Der moderne Mensch hat alles zur Verfügung, ist aber nie glücklich. Diese Unruhe, dieses Unbehagen, mündet jedoch nicht in Rebellion und Zorn, die in der jüngsten Vergangenheit zum Ausdruck kamen. Marcello Veneziani hat sich in seinem neuen Buch „Scontenti“ mit diesem so weitläufigen, schwierigen und nahezu unfaßbaren Thema befaßt.
Perché non ci piace il mondo in cui viviamo (Warum wir die Welt, in der wir leben, nicht mögen)
Wir spüren die Entartung der menschlichen, zivilen und zwischengeschlechtlichen Beziehungen sowie der Beziehungen zwischen Bürgern und Institutionen; es ist der Verlust der Unterschiede im Zeichen der Homologisierung und der Verlust der Gemeinsamkeiten im Zeichen der Atomisierung“, schreibt Veneziani. Die Menschheit scheint in Gefahr zu sein, bedrängt durch genetische und ökologische Mutationen, durch das Ungleichgewicht zwischen weltweiter Überbevölkerung und westlicher Denatalität und durch zahlreiche Faktoren, die die Welt und die Bindungen destabilisieren: das Aufkommen des Transhumanismus, der Genderfluidität, der künstlichen Intelligenz, der Neurotechnologien, die Vorherrschaft des Virtuellen über das Reale, der Technologie über den Humanismus, der Finanzen über die Kultur. Das Unbehagen, die daraus resultierende Desorientierung, begründet die Unzufriedenheit; sie macht sie dauerhaft und nicht vorübergehend, substantiell und nicht gelegentlich.
Die „transhumanistische“ anthropologische Revolution mit all ihren Irrwegen wäre nicht möglich, wenn der Mensch die Realität, seine Bestimmung und seine natürliche Rolle akzeptieren würde. Gleichzeitig gibt es aber auch, wie Veneziani erklärt, eine sakrosankte Unzufriedenheit: die derjenigen, die angesichts der Dampfwalze der Vernichtungskultur und des grassierenden autoritären Nihilismus die Kraft haben, den Kopf zu erheben und zu sagen, genug ist genug.
Marcello Veneziani zufolge ist die Menschheit nicht mehr rebellisch, nicht mehr wütend, nicht mehr nachtragend, sondern einfach nur unzufrieden: Welche anthropologische Entwicklung erleben wir gerade?
Unzufriedenheit ist das dunkle Übel unserer Zeit, ein Gemütszustand, der dem Zorn oder der Rebellion, dem Haß und dem Groll vorausgeht, ja sie ist die Voraussetzung für all dies. Sie hat tiefe Wurzeln, aber die Hauptursache ist heute, daß die Ansprüche enorm gestiegen sind und eine unüberbrückbare Kluft zwischen Realität und Wünschen entstanden ist. Aber all dies ist nicht einfach eine Folge des Klimas: Es gibt diejenigen, die auf unserer Unzufriedenheit ihre Macht und unsere Abhängigkeit aufbauen, ihren Markt errichten und unseren Konsumdrang stimulieren.
Gehören Transhumanismus, künstliche Intelligenz, Gender-Ideologie zu den Folgen dieser Unzufriedenheit oder tragen sie eher dazu bei, sie zu schüren?
Sie sind eng mit der Unzufriedenheit verbunden, denn sie entspringen der Ablehnung der Realität, der Natur und der Identität, dem Wunsch nach Mutation, dem Wunsch, sich selbst zu verleugnen und anders zu werden als man ist. Wir würden nicht an den sogenannten Posthuman, die künstliche Intelligenz, den Transgender denken, wenn wir das Schicksal unseres Menschseins, unserer Intelligenz und unserer Natur akzeptieren würden: aber wir sind unzufrieden mit dem, was wir sind und was uns umgibt; oder besser gesagt, wir werden zu dieser Unzufriedenheit verleitet.
Welche Aspekte der oben genannten Themen haben Sie in Ihrem Essay besonders untersucht?
In der Unzufriedenheit habe ich mich auf diese hervorstechenden Aspekte unseres Zeitalters und diese Ablehnung von Identitäten und Unterschieden, von unseren Grenzen und unserer Geschichte bezogen; ich habe auch den Zusammenhang mit der Cancel-Kultur und der politischen Korrektheit erkannt, die das ideologische Substrat dieser Vision ist. Unsere Unzufriedenheit zu steuern ist die Aufgabe der Wunschfabriken, die unsere Gesellschaft beherrschen und künstliche Lebensmodelle vermitteln.
Wir sprechen über eine ganz bestimmte Kategorie von Unzufriedenen: diejenigen, die die Verbreitung der Gender-Ideologie oder der Pseudo-Karrieren in den Schulen sehr ernst genommen haben, indem sie sich ihr widersetzten. Was sind das für Menschen und wie würden Sie diese in der heutigen Zeit einordnen?
Sie sind in einem anderen Sinne und auf eine andere Art und Weise unzufrieden als diejenigen, die von jenen medialen, ideologischen und kulturellen Agenturen beeinflußt werden, die zur Selbstablehnung anstiften. Sie sind im Gegenteil unzufrieden mit dieser Hegemonie, sie akzeptieren nicht, sich dieser Herrschaft zu unterwerfen, die erstickend geworden ist und die auch durch Kino, Kunst, Fernsehen und Schule geht. Aber sie tun dies im Namen von Identitäten und Unterschieden, von Natur und Tradition, sie verteidigen die Realität mit all ihren Unvollkommenheiten und akzeptieren nicht, daß das reale Leben durch sein Surrogat ersetzt wird. Diese Unzufriedenheit ist unantastbar, und wenn sie mit Intelligenz und Realismus ausgedrückt wird, ist sie das Gegenmittel gegen die Verfälschung der realen Welt.