Joakim Andersen
erörtert die Philosophie von Ludwig Klages, insbesondere sein biozentrisches Weltbild, und seine Bedeutung für aktuelle Fragen der Ökologie und Kultur sowie seinen Wert für die Geschichte und Philosophie der Wissenschaft.
Ludwig Klages (1872-1956) war einer der interessantesten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts. Er war auch einer der komplexesten. Klages war ein Philosoph, ein Psychologe und ein führender Graphologe. Zusammen mit Alfred Schuler und Karl Wolfskehl bildete er in München den ›Kosmischen Kreis‹. Der Kreis bestand aus dem Dichtermilieu von Stefan George, folgte aber nicht ganz Georges patriarchalischem Weltbild.
Klages war ein produktiver und origineller Denker. Unter anderem war er der „Vater” des Begriffs ›Es‹, der später von Sigmund Freud aufgegriffen wurde. Klages prägte auch den Begriff des ›Logozentrismus‹, der heute in bestimmten feministischen Strömungen verwendet wird. Er gab seiner psychologischen Schule den Namen ›Charakterologie‹ und schrieb mehrere Klassiker zur ›Graphologie‹.
Klages war ein Mann der Widersprüche. In seinen Schriften war er ein „Antisemit”, doch er verbrachte mehrere Jahre damit, die Werke seines jüdisch-ungarischen Kollegen, des Naturphilosophen Melchior Palagyi, nach dessen Tod herauszugeben. Klages war im ›Dritten Reich‹ nicht sehr populär, aber er hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf seine Theorien über das Judentum verzichtet. Kürzlich stellte Jürgen Habermas fest, daß Klages als origineller und interessanter Denker viel Wertvolles zu bieten hat. Aber seine einzigartige Perspektive ist heute weitgehend vergessen.
Das biozentrische Weltbild
Wildschwein, Steinbock, Fuchs, Baummarder, Wiesel, Ente und Fischotter – alles Tiere, mit denen die uns liebgewordenen Legenden eng verbunden sind – werden immer weniger, sofern sie nicht schon ausgestorben sind…
(Klages, 1913)
Was ich an Klages‘ Gedanken am meisten schätze, ist sein sogenanntes ›biozentrisches Weltbild‹. Klages behauptet, daß die Unterscheidung zwischen ›Idealismus‹ und ›Materialismus‹ ziemlich irrelevant ist. Stattdessen beschreibt er einen tieferen, weniger bekannten historischen Konflikt. Klages stellt das Leben in den Mittelpunkt, identifiziert aber auch eine lebensfeindliche Kraft, die allmählich in die Welt eingedrungen ist und sie erobert hat. Klages verwendet die deutschen Begriffe ›Seele‹ und ›Geist‹. Zwischen ›Leben‹ und ›Geist‹ besteht eine enge Verbindung, während der ›Geist‹ mit Abstraktionen wie „Sünde”, „Wille zur Macht” und ähnlichen Konzepten verbunden ist. Klages beleuchtet den Unterschied:
So wie der Philosoph des Geistes alles, was den Geist verleugnet, als „Sünde” ansieht, betrachtet der Philosoph des Lebens das, was das Leben verleugnet, als ein Vergehen… Niemand spricht von einer Sünde gegen einen Baum, aber die Menschen haben in der Vergangenheit – und viele tun es auch heute noch – sicherlich von einem „Vergehen” gegen einen Baum gesprochen.
Zu diesen lebensfeindlichen Äußerungen zählt er den ›Moralismus‹, das ›Judentum‹ und das ›Christentum‹, aber auch den ›Kapitalismus‹ und den ›Militarismus‹. Nietzsches „Wille zur Macht” läuft ebenfalls Gefahr, zu einem Teil der lebensfeindlichen Kräfte und zu einer ungesunden Besessenheit zu werden. Klages entwickelt eine nützliche ökologische Tiefenperspektive, die mit Naess, Abbey und Linkola verwandt ist und diese ergänzt. Er beschreibt auch, wie der „Fortschritt” der Welt geschadet hat.
In dem Essay ›Mensch und Erde‹ beschreibt Klages, wie Tiere und Pflanzen ausstarben, aber auch wie Volkskulturen und authentische menschliche Gefühle zurückgedrängt wurden. Klages war ein Antikolonialist und beschreibt, wie sowohl Tierarten als auch menschliche Kulturen ausgelöscht werden. An ihrer Stelle wird alles vermischt, und der „Vampir”, der sich „Geist” nennt, breitet sich über die ganze Welt aus. So verbindet Klages die Bedrohung der biologischen Vielfalt mit der Bedrohung der Kultur.
Das bewußte Machtstreben des modernen Menschen übertrifft das aller vorangegangenen Epochen … Im Dienste der menschlichen Bedürfnisse hat die immer weiter fortschreitende Technisierung die Entweihung der Natur bewirkt. (Klages)
Diese Texte sind auch aus wissenschaftshistorischer und -philosophischer Sicht interessant. Klages hinterfragt sowohl die ›Psychoanalyse‹ als auch Sokrates und vieles mehr. Er kritisiert Begriffe wie ›Fortschritt‹ und ›Utopismus‹ als lebensfeindlich. Seine Sichtweise legt primären Wert auf ›Geist‹ und ›Leben‹ und auf das ›Unbewußte‹ und das ›Qualitative‹. Man tut gut daran, die Werke von Klages mit Guénons ›Die Herrschaft der Menge und die Zeichen der Zeit‹ zu vergleichen, ebenso wie mit Heidegger und Alexander Jacobs ›De Naturae Natura‹.
Klages und die Romantik
Der Mensch sollte die vom Unbewussten hervorgebrachten Früchte als einen unerwarteten Glücksfall betrachten, den der Himmel ihm schenkt. (Goethe)
Zu Klages‘ eigenen Quellen gehören Nietzsche und die vorsokratischen Philosophen. Wir finden auch die deutschen Romantiker und Goethe. Bei den Romantikern konzentriert sich Klages auf den heute weitgehend vergessenen Carl Gustav Carus. Er zeigt, daß die deutsche Romantik einen unvergänglichen Wert hat.
Im Hinblick auf das eigene Leben zeigt Klages auf, daß zu viel „Geist” zu einem schlechteren und weniger authentischen Leben führt. Wenn der Prozeß zu weit fortgeschritten ist, verliert man die Fähigkeit, die Schönheit eines Waldes wahrzunehmen, und sieht ihn stattdessen nur noch als etwas rein Quantifizierbares: als einen Haufen Holz.
Ebenso sind die Romantiker und Klages auch für die Politik von Nutzen. Sie zeigen, daß die Tendenz zur Überpolitisierung und das ideologische Denken zu den Feinden des Lebens gehören. Familie, Natur, Gefühle, Schönheit, Volkskultur – sie alle sind bedroht durch zu viel „Geist“.
Für die Wissenschaftsphilosophie sind Carus, Goethe und Klages ebenfalls von großem Nutzen, da sie den Blick auf das Ganze statt auf die Teile der Dinge, auf das ›Unter- oder Unbewußte‹ und auf die ›Wirklichkeit‹ und das ›Leben‹ richten, anstatt sich auf das ›Mechanische‹ und ›Quantifizierbare› zu konzentrieren. Klages zitiert Carus:
… der Schlüssel zum Verständnis des bewußten Denkens liegt im Bereich des Unbewußten.
Das biozentrische Weltbild ist daher aufgrund seiner tiefgreifenden ökologischen Qualitäten sowie Klages‘ originellem Geschichtsbild von großem Wert. Klages‘ Beschreibung des Aufstiegs und der vampirhaften Ausbreitung von „Geist” hat viel mit Nietzsches Beschreibung der Übernahme der Welt durch ›Ressentiment‹ und ›Sklavenmoral‹ gemein.
Klages ist kein Determinist. Er schließt nicht aus, daß „Geist” und „Leben” gegen den „Verstand” verteidigt werden können. Er erinnert uns auch daran, daß das Ziel einer am Geist orientierten Wissenschaft das ›Verstehen‹ ist und nicht das ›Reduzieren‹ und ›Manipulieren‹. Seine Vorbilder sind daher Helden, Dichter und Götter.
Der Sammelband ist sehr zu empfehlen.