
Alastair Crooke
Am 24. Februar jährte sich der Beginn des Krieges in der Ukraine. Selten hat ein einzelnes geopolitisches Ereignis die Erwartungen so völlig über den Haufen geworfen; selten hat es die Weltkarte neu geordnet. Ein Blick auf eine geopolitische Weltkarte von heute zeigt schockierend, wie klein London, Paris und Washington erscheinen und wie sich die Weltachse nach Osten verschoben hat, mit dem Eurasischen Raum als neuem globalen “Auge” im Zentrum.
Zum Vergleich: Vor einem Jahr befanden sich die westlichen Eliten auf der Münchner Sicherheitskonferenz in einem Delirium der Begeisterung. Es war berauschend, berauschend – als die Delegierten sich ausmalten, wie ihre Sanktionen gegen Rußland dessen Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen und wahrscheinlich zu Putins Sturz führen würden.
Es sollte der Triumph der westlichen Eliten sein, die in München und Davos zusammenkommen – eine Bestätigung ihrer Vorstellung von einer gemeinsamen globalen Zukunft. Und es sollte auch eine klare Bestätigung dafür sein, daß sie es waren, die auf der “richtigen Seite der Geschichte” standen, in krassem Gegensatz zu “den anderen” (Rußland und den “Autokraten”), die als die “dunkle Seite der Geschichte” dargestellt wurden.
Vor einem Jahr noch unvorstellbar, zeigt sich Rußland selbstbewußt – und zahlungsfähig! Heute ist es die Ukraine, die am Rande des Zusammenbruchs, der militärischen Entropie und des Bankrotts steht. Vor zwölf Monaten ging man davon aus, daß Rußlands “kleine, eng fokussierte Wirtschaft” (wie der Westen sie nennt) den “Stresstest” nicht bestehen würde, wenn man sie dem vollen Gewicht der geballten westlichen Finanzkraft aussetzt.
Stattdessen werden heute Fragen gestellt, die sich auf die vermeintliche Finanzstärke des Westens beziehen: Ist die Art und Weise, wie das überfinanzierte westliche System die Wirtschaftskraft mißt – durch Aggregation der Ausgaben – ein gültiger Maßstab für die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der Realwirtschaft? Sind in Zeiten hoher Inflation eine Wirtschaft und eine Währung (die an Sachwerte gebunden ist) stärker als eine, die an Papiergeld gebunden ist? Ist eine strategisch ausgerichtete reale Produktionsbasis eine größere Stärke als diejenige, die von flüchtigen Ad-hoc-Finanzdienstleistungen bereitgestellt wird?
Hätte man sich vor einem Jahr solche Fragen auch nur einen Augenblick lang gestellt? NEIN! So viele “Platten” bewegen sich …
Paradoxerweise wurde in dem, was sich als erhabene Bestätigung einer westlich geführten, selbstbestimmten „regelbasierten Ordnung“ und als ein unter Putin ausgelöstes Erdbeben entpuppen sollte, eher Bidens Fähigkeit (nicht Putins) in Frage gestellt, genau in dem Moment, in dem er seine Entscheidung über seine in Frage gestellte Kandidatur für 2024 treffen muß.
In diese Atmosphäre des Zweifels hinein hat Seymour Hersh, der legendäre investigative US-Journalist, seinen bahnbrechenden Bericht mit der Frage veröffentlicht: Kann man Biden vertrauen, daß er nach seiner unberechenbaren Entscheidung, die Gasleitung des engen NATO-Verbündeten Deutschland zu sprengen, nicht (wieder) leichtsinnig wird? Nein, es geht nicht nur um einen Fall von Leichtsinn (Nord Stream), sondern um mehrere Fehleinschätzungen, die Anlaß zu wachsender Wut des ›Tiefen Staates‹ auf Biden und vor allem auf sein Team von Neokonservativen mit ihren unreifen politischen Einschätzungen geben.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum Fraktionen innerhalb des Tiefen Staates “entsetzt” sind: Die Produkte der amerikanischen Rüstungsindustrie werden in der Ukraine schneller verbraucht, als sie hergestellt werden können. Der Krieg verändert das Kalkül der USA in Bezug auf China nachteilig, da das US-Militärinventar in der Ukraine verbrennt und der Vorrat für andere Herausforderungen aufgebraucht ist. Und der Krieg in der Ukraine kann leicht auf Osteuropa übergreifen …
Biden hat das US-Establishment in eine Zwickmühle gebracht: Können wir uns vorstellen, daß die USA die Hände in den Schoß legen und den russischen Sieg zulassen? NEIN. Die NATO könnte angesichts eines solch spektakulären Scheiterns zerfallen. Wird Biden also verzweifeln? Und, wie viele vermuten, das Risiko eingehen, eine sich verschlimmernde Situation zu riskieren?
Unterm Strich bleibt die (für die westliche Elite) unerwartete Erkenntnis, daß die USA selbst der größte Verlierer im Krieg gegen Rußland sein könnten.
Die Biden-Administration hat im wesentlichen einen konzertierten Gegenschlag des US-Establishments gegen Bidens Entscheidungskompetenz ausgelöst. Der Bericht von Seymour Hersh, der Bericht der Rand-Organisation, die Interviews des ›Economist‹ mit Zelensky und Zaluzhny, der CSIS-Bericht, der IWF-Bericht, der Rußlands wirtschaftliches Wachstum zeigt, und die vereinzelten Eruptionen der harten Realität, die in den Medien auftauchen, zeugen alle davon, daß der Dissens über Bidens Umgang mit dem Ukraine-Krieg immer größer wird.
Kann Biden abgesetzt werden? Theoretisch: “Ja”: Sechzig Prozent der jungen demokratischen Parteimitglieder wollen nicht, daß Biden erneut kandidiert. Die Schwierigkeit liegt jedoch in der großen Unbeliebtheit von Kamala Harris als möglicher Nachfolgerin: Der jüngste Beweis für Harris’ schwindende Position ist ein scharfer und kritischer Artikel in der ›New York Times‹, gefüllt mit anonym geäußerter Mißbilligung von führenden Demokraten, von denen viele sie einst unterstützten. Jetzt sind sie besorgt. Ihre Befürchtung, schreibt Charles Lipson, ist, daß sie kaum noch zu stürzen ist.
Die Antwort des Westens auf das Rätsel, das diese unerwartete “Wende” darstellt, ist der Rückgriff auf Manichäismus.
Bidens Rede in Warschau bedient sich des radikalen Manichäismus, um Rußland als das Zentrum des epischen Kampfes zwischen dem Licht und den Mächten der Finsternis darzustellen. Der ewige Kampf, der unaufhörlich ausgetragen und vernichtend gewonnen werden muß:
“Steht zu uns. Wir werden zu euch stehen. Laßt uns vorwärts gehen … mit der festen Verpflichtung, nicht Verbündete der Dunkelheit, sondern des Lichts zu sein. Nicht der Unterdrückung, sondern der Befreiung. Nicht der Gefangenschaft, sondern der Freiheit”, sagte Biden in Warschau.
Aber Biden bot seinen Zuhörern keinen konkreten Plan an. In Warschau, wo die Zeit für sein “Projekt” in der Ukraine abläuft und die “Realisten” der USA und die “Falken” Chinas zu Hause immer mehr an Boden gewinnen, hob Biden den Kampf von der buchstäblichen auf die metaphysische Ebene.
Der Manichäismus ist nichts Neues – es handelt sich um einen uralten Kult mit tiefen Wurzeln im lateinischen Christentum (und wahrscheinlich sieht Biden Putin zumindest teilweise als den Demiurgen, den “dunklen” Anti-Gott).
Einfach ausgedrückt, versucht er auf diese Weise, Amerikas tief verwurzeltes missionarisches Ethos in einem “ewigen” Krieg gegen das russische “Böse” zu zementieren. Er hofft, die amerikanische herrschende Klasse an den metaphysischen Kampf um das “Licht” zu binden. Damit will er die Realisten übertrumpfen, die einen Politikwechsel fordern.
Doch wohin wird das führen? Werden die USA der größte Verlierer sein? Das ist der Kampf, der sich jetzt in der US-Politik abspielt – der Ausgang der Ukraine wird tatsächlich durch Amerikas internen “Krieg” entschieden werden.
Es könnte schlimmer kommen. Ja, die herrschende Klasse der USA hat Angst, daß ihr kollektives Fehlverhalten in der Ukraine-Frage und in den Beziehungen zu Präsident Xi ihren schlimmsten Albtraum heraufbeschworen haben könnte: Rußland und China bewegen sich auf einen gegenseitigen Verteidigungspakt zu.
Im Klartext: Die Produktionskapazitäten (und damit die potenziellen Waffenproduktionskapazitäten) Chinas allein sind so groß wie die der USA und Europas zusammen …