Prof. Dr. Otto Huth
In den Sturmnächten des Herbstes und Winters zieht Wodan, der Sturmgott der Germanen, auf seinem Schimmel über die Wälder. An den Festtagen hält der Gott seinen Einzug bei den Menschen; man bringt ihm Opfer und erhält von ihm Gaben, die das Glück des kommenden Jahres verbürgen.
An die Stelle des Gottes traten dann später verschiedene Heilige. Es ist eine bekannte und, wenn man es sich ruhig überlegt, doch recht auffallende Tatsache, daß so viele Heilige in germanischen Ländern als Schimmelreiter erscheinen, von denen die bekanntesten der Martin und der Nikolaus sind. Die Tage dieser Heiligen – der Martinstag, d. i. der 11. November bzw. der vorhergehende Abend, und der Nikolaustag, d. i. der 6. Dezember oder wieder der Vorabend – zeigen viele ähnliche Züge. Sie gehen auf dasselbe alte Fest zurück, das später auf verschiedene Tage verlegt wurde.
Der Martinstag gilt als der Winteranfang; wenn wir genauer zusehen, finden wir, daß er einmal als Jahresbeginn galt. Berühmt sind die Schmause und Zechereien dieses volkstümlichen Festtages. Seit alter Zeit ist es der Termin der Faß-Eröffnung und der Probe des neuen Weins. Sehr weit verbreitet ist an diesem Tage das Essen des festlichen Gänsebratens. Es ist eine alte Opferspeise, wie aus vielen Einzelheiten der Überlieferungen noch hervorgeht. So wird z. B. aus dem Brustbein der Gans geweissagt.
Aus seiner Beschaffenheit schließt man auf die Witterung des kommenden Jahres. Sehr altertümlich ist das Trinken der lebt altgermanischer Kultbrauch fort; es ist uns bestens bezeugt, daß die Germanen bei ihren Opferfesten die Minne der Götter tranken. Merkwürdig ist das Trinken der Minne der Gans, das schon im Mittelalter bezeugt ist. Deutlich zeigt sich hier wieder, daß die Gans ein heiliges, dem Gott geweihtes Tier war.
Wie sehr der Festtrunk zum Martinsfest gehört, zeigt übrigens das französische Wort martiner, das tüchtig trinken bedeutet. Die ›Krankheit des heiligen Martin‹ ist Trunkenheit oder verdorbener Magen. Wenn wir die Feier des Martinstages vor allem im Westen Deutschlands beobachten können, so weist das darauf hin, daß er auf ein Fest des fränkischen Stammes zurückgeht; daher erklärt sich übrigens auch die Verbreitung der Bräuche dieses Tages nach Flandern und Frankreich hinein.
Einer der bekanntesten und verbreitetsten Bräuche des Martinstages sind die Laternenumzüge, die sich in anderen Gegenden Deutschlands auch zu anderen Zeiten finden. Ausgeschnittene Rüben und Kürbisse, die Sonne, Mond und Sterne darstellen, heute aber Papierlaternen, werden von Kindern umhergetragen, die vor den Häusern ihre altergebrachten Lieder singen und um Gaben und Holz betteln. Das Holz sammelt man für die Martinsfeuer, die früher im ganzen Westen des Deutschen Reiches gebrannt wurden.Als Gaben wurden Apfel und Nüsse erbeten oder Kuchen und Gebäck.
Wie an jedem volkstümlichen Festtage, haben auch die Gebäcke des Martinstages bestimmte Formen, die seit uralten Zeiten überliefert sind. Wir finden unter ihnen die Martinshörnchen, Kringel und jene Gestalt mit den beiden in die Seite gestemmten Armen. Die Heische-Lieder sind teilweise sehr alt. Wir können sie über siebenhundert Jahre zurückverfolgen; eine genauere Untersuchung der landschaftlichen Verbreitung wird aber wahrscheinlich ein noch viel höheres Alter dartun können. Bestimmte Formeln dieser Lieder kehren ganz ähnlich wieder in entsprechenden Festliedern Alt-Griechenlands, woraus sich mit Gewißheit ergibt, daß wir es mit einer Überlieferung zu tun haben, die durch Jahrtausende, trotz mancher Umformungen, treu bewahrt wurde. In diesen Liedern ist häufig die Rede von ›Sankt Martins Vögelche mit seinem roten Kögelche‹ (Mützchen). Man erkennt in diesem Vögelchen den Specht wieder, der einst wie der Adler und Rabe ein heiliger Vogel war.
In Düsseldorf lautet ein Martinslied:
Ich bin ein kleiner König,
Gebt mir nicht zu wenig,
Laßt mich nicht zu lange stehn,
Denn ich muß noch weiter gehn.
Nach Empfang der gewünschten Gaben wird ein Danklied gesungen. Wenn man aber nichts erhält, so läßt man seinem Zorn über den Geizhals in oft recht derber Weise freien Lauf. Diese Zornsprüche haben recht verschiedene Gestalt. Ursprünglich war es selbstverständlich, daß jeder etwas gab, und jeder Brennholz für das Martinsfeuer zur Verfügung stellte. Denn dieses Feuer war eine Gemeinschaftssache, von der sich niemand ausschließen wollte. Wer nicht mitmachte, der schloß sich damit auch von dem Segen, den das Festfeuer brachte, aus.
Die Laternen- und Fackelumzüge, die heute auch an manchen Orten sich finden, an denen längst kein Martinsfeuer mehr üblich ist, standen ursprünglich mit diesem Feuer in enger Beziehung. Ebenso wie bei den anderen Jahresfeuern reicht ihr Segen und die Fruchtbarkeit spendende Kraft des Feuers so weit, wie es leuchtet. Man steckt daher diese Feuerfackeln an und läuft mit ihnen über die Felder, um ihnen die Segenskraft des heiligen Feuers mitzuteilen. In manchen Gegenden wurden auch am Martinstage brennende Räder zu Tale gerollt, wie das sonst von anderen Festen überliefert ist. Die eingesammelten Gaben wurden in Körbe getan, die man ins Feuer warf. Dann kippte man die Körbe um und suchte sich die angebratenen Apfel.
Daher heißt es auch in dem Heische-Lied aus Montabaur:
Steuert uns etwas zum Martinsfeuer,
Apfel und Bir wollen gebraten sein.
Werft uns ein großes Stück Holz heraus.
Man wird früher wohl einige der gesammelten Gaben ganz dem Feuer übergeben haben, als Opfergaben. Andere brachte man nur mit dem Feuer in Berührung und verzehrte sie dann, nachdem sie durch das Feuer geweiht waren. In den Umzügen führt man auch Masken mit, so Darstellungen des heiligen Martin, die mitunter in dem Feuer verbrannt werden. Beim Tanz um das Feuer sang man von dem ›neuen St. Martin, der alte sei verbrannt‹. Es handelt sich hier um den höchst altertümlichen Brauch, daß eine Gestalt, die das alte vergangene Jahr verkörpert, verbrannt und durch den Tod im Feuer erneuert, wiedergeboren wird.
Das Neue entsteht aus dem Tode des Alten. Wir verstehen nun auch, warum jenes Gebäck, das den Martin darstellt, ihn mit Henkelarmen abbildet, die einen Kreis bilden. Es ist dies der Jahreskreis, der das immer wiederkehrende Sinnbild der ewigen Erneuerung des Lebens ist. Daß diese Deutung das Richtige trifft, ergibt sich auch daraus, daß manchmal der eine Arm nach oben gezogen und an den Kopf gelegt ist, der andere aber in die Seite gestemmt wird. Es ist damit deutlich auf die Verschiedenheit der beiden Jahreshälften angespielt, deren eine den Frühling, das Steigen und Wachsen bedeutet, dagegen die andere den Herbst, das Sinken und Vergehen.
Diese Maskenumzüge des Martinstages haben in manchen Gegenden noch dieselbe Form, in denen wir sie sonst heute mehr in den Umzügen der Zwölf Heiligen Nächte und der Fasnacht finden. Da verkleiden sich z. B. im Schwäbischen die Jungens als Pelzmärte, machen großen Lärm mit Schellen und werfen Erbsen an die Fenster. Anderswo ziehen gehörnte, mit Ruß geschwärzte und mit Schellen behängte Gestalten umher, die jeden, dem sie begegnen, mit Ruß beschmieren. Andernorts wieder knallen die Knaben mit Peitschen. Das Lärmmachen ist ein typischer Zug all dieser winterlichen Maskenumzüge. Bei den Martinsumzügen finden wir z. B. den Rummelpott, der auch Huckelpott, Hindeltopp oder Büllhafen heißt.
Der Rummelpott ist ein einfacher Blumentopf oder ein hölzernes Gefäß, das wie eine Trommel mit einer Schweinsblase überspannt ist. Bevor man die Schweins-blase anbringt, wird sie durchstochen und in das Loch ein Rohrstengel gesteckt, der in die Mitte des Topfes zu stehen kommt. Mit dem Rummelpott kann man ein dumpfsummendes Geräusch erzeugen, indem man mit der Hand an dem Stengel auf- und abstreicht. Dieser Rummelpott ist heute noch in Schleswig-Holstein und Ostfriesland, in Holland und Flandern, aber auch in Kärnten und der Steiermark in Gebrauch. Er wird sonst am Neujahrstag und vor allem in der Fasnachtszeit verwandt. Das zeigt wieder, daß der Martinstag zu diesen alten Mittwinterfesten gehört.
Wie schon hervorgehoben wurde, hat das Martinsfest besondere Verwandtschaft mit dem Nikolaustag. Wurden am Martinstag bei den Bettelumzügen immer wieder Apfel, Birnen und Nüsse in den althergebrachten Liedern gefordert, so ist es andererseits am Nikolaustag üblich, Schuhe oder Teller vor die Türe zu stellen, auf denen dann am Morgen die Kinder die Gaben des Nikolaus fanden, unter denen wiederum Apfel und Nüsse nie fehlen durften. Wie wir sahen, gehen Martin und Nikolaus auf dieselbe Urgestalt zurück; es ergibt sich also, daß der hinter den Heiligen sich verbergende alte Gott dieselbe Gabe empfängt, die er spendet. Apfel und Nüsse aber sind im alten Mythos Götterspeise, die den Göttern das ewige Leben verbürgt. An den Festtagen ißt sie auch der Mensch, um des göttlichen Segens teilhaftig zu werden. ◊