Gerhard Hess

 

Phonetischer Wert : k
Tierkreis: Jungfrau
September Mitte

Sakralfest: Nerthas Abschied

Erdmütterliches Abschiedsfest, herbstliches Disablot, Göttinnenopfer, Frauenfest. Die Abschiedsmythen der verschiedenen Erdmuttergestalten sind bekannt, z. B. der Abstieg der eddischen Idun in unterweltliche Be­reiche, um aus den grabgleichen Wurzelbereichen für neues Keimen und Erwachen des frühjährlichen Wachs­tums zu sorgen.

Die -Rune ist zahlenmythologisch der Urmutter zuzuordnen, denn die Quersummen-Kernzahl der Neunzehn ist Eins. Der kosmische Anschau­ungsunterricht demonstriert es mit dem Metonischen Mondzyklus: Nach 19 Jahren fallen alle Mondphasen wieder wie zum Beginn auf dieselben Wo­chentage des Sonnenjahres. Deshalb gilt die 19 als „Goldene Zahl“ der Zeit­rechnung.

Beide Zahlenmetaphern, 7 und 19, die die „rechte Zeit“ verkörpern, stehen im Idealjahr als Repräsentanten der Großen Mutter in deren Aufstiegs- und Abstiegspositionen, nämlich in Frühlings- und Herbst­gleiche.

Die Quellen belegen diese Rune mit drei Begriffen: kien, kaun, kano, also „Kien-Fackel“, „Geschwür-Krankheit“, „Kahn, Schiff“.

Die alt-isl. Runen­rei­me­rei sagt:Kaun ist der Menschenkinder Unglück und des Unglücks Weg und die Wohnstatt toten Fleisches.“ Das personifizierte Jahr ist krank geworden, der Leichenbrand ist die letzte Wohnung toter Körper, und das Totenschiff bringt sie in die andere Welt.

Der große Lebenskessel der Mai-Mutter ist zu einem kleinen Näpflein geschrumpft. Passende germanische Worte dafür wären kar, kas, katils („Gefäß, Krug, Kessel“).

Oder meint das Runenbild die Fackel, die als Septembersinnbild auf antiken Altären erscheint? Gleich­gül­tig, ob Napf oder Fackel, beides sind Attribute der Großen Göttin, mit der man das Sternbild Virgo, die Jungfrau, identifizierte, deren leuchtendster Stern Spika („Ähre“) als Kornkind oder auch als Fackelbrand gedeutet wur­de.

Die Rune munkelt von der Göttin Gang in die Unterwelt, mit der Fackel in Händen sucht sie das geschwundene Leben. Im sumerischen Sagenkreis ist es die Inanna-Ishtar, im spätheidnisch-nordgermanischen die Hüterin der Lebensäpfel, die Lebensmutter Nanna-Idun.

Der Hrafnagaldr Odins berichtet von „Alfengeschlechtern Idun genannt […] Es schmerzt sie, in der Tiefe zu weilen, gebannt zu sein unter des [Welt-]Baumes Stamm. Nicht behagt es ihr bei Nörwis Tochter, der Nacht – war sie doch an heitere Wohnung ge­wöhnt so lange. Die Sieggötter sahen die Sorge der Nanna in niederer Woh­nung: Sie gaben ihr ein Wolfsfell. Damit bekleidet, verkehrt sie den Sinn, freut sich der Auskunft und wechselt die Farbe.“

Als Herbstgöttin verkehrt sich ihr Sinn, ihre Farbe, ihr Naturell. Ihre Rune raunt von langer Krankheit, Mut­losigkeit angesichts des Welkens und des Blätterfalls. Die Mutter gebiert, so muß sie auch wieder verschlingen. Doch jede trockene, leblos erscheinende Schote und Nuß, jeder Fruchtkern birgt das Geheimnis eines süßen lebendigen Inneren, eines Seelenzentrums, aus dem eine Wiedergeburt mög­lich wird.

Unter diesem Aspekt spricht die Rune im übertragenen Sinne von der Chance, die äußeren Niedergängen innewohnt: Sie sollten zur Selbstbesin­nung auf den eigenen Wesenskern führen. Daraus ist ein neuer Aufstieg allezeit möglich.

Der runische KIENBRAND ist entfacht,
die Fackel gilt als Fanal der Nacht.
Zur Herbstgleiche endet der Jahres-Tag,
weil Finsternis nun triumphieren mag.
 
Hier erstirbt nach äußerem Augenmerk
das lichte, göttliche Schöpfungswerk.
Nach der Lehre der ewigen Wiederkehr
verwirkt sich die Welt im Flammenmeer,
versinkt sie im mordenden Winterwürgen,
wofür sich die Chaosmächte verbürgen.
 
Herbstgleiche ist Gleichnis für‘s End-Vergehen,
Frühlingsgleiche aber für‘s Wiedererstehen.
Wenn weltliches Licht und Leben erlischt,
hält die Gottheit ihr großes Letztes Gericht.
 
Nach vieltausendjähriger Sternensage
erwacht dann die Sonne in der „Waage“;
dem Symbol für das gerechte Sichten,
dem Ergründen, dem Wägen und Richten.
 
Mit der Waage beginnt das Ende der Zeit,
der Weltenwinter, die Dunkelheit.
So hat auch der Runen-Denker gedacht,
er setzte die Fackel ans Tor zur Nacht.

Beitragsbild: Jan Fibinger