15.000 Chormitglieder singen Ligo (Johannislied), das lettische Volkslied

 

 Līgo – Purva bridēja

Tumsas māte, miglas māte
Aiz ezera velējās,
Dun bauzīte, čukst vālīte,
Ievelk mani niedrājā.

Viegli gāju pār ūdeni
Kā spārnota gaigaliņa,
Zelta niedri zinādama
Viņa krasta galiņā.

Nu atbridu, nu atradu
Zeltniedrīti nolūzušu.
Jaunu meitu vainadziņi
Dučiem vīta krastmalā.

Tumsas māte, miglas māte,
Pacel savu villainīti,
Lai redzēja mīļa Māra,
Kā niedrīti dziedināt.

Līgo – Die Frau, die durch den Sumpf watet (Johannislied)

Die Mutter der Dunkelheit, die Mutter des Nebels
ist jenseits des Sees mit Waschen beschäftigt,
der Schlägel schlägt, der Waschbläuel flüstert,
es zieht mich ins Röhricht hinein.

Leicht huschte ich übers Wasser
wie eine geflügelte Schellente,
ich wußte ein goldenes Schilfrohr
am Ende des anderen Ufers.

Nun kam ich gewatet und fand
das goldene Schilfrohr gebrochen.
Blumenkränze junger Mädchen
welkten am Ufer zu Dutzenden.

Mutter der Dunkelheit, Mutter des Nebels,
hebe dein Schultertuch,
damit die liebe Māra sehen kann,
wie das Schilfrohr zu heilen wäre.

 

 

Volkslieder sind im Lettischen völlig anders, als wir sie im Deutschen kennen und haben auch einen völlig anderen Stellenwert in der Kultur als im Deutschen.

Die markanteste Eigenart lettischer Volkslieder ist, daß es meist kleine Vierzeiler sind, die man als Sinngedicht bezeichnen könnte. Längere Lieder mit zusammenhängender inhaltlicher Erzählung existieren zwar, sind aber Ausnahmen.

Unter dem Liedtitel „Līgo” steht als Untertitel: Purva bridēja, das bedeutet: Die Frau, die durch den Sumpf watet und spielt auf eine der bekanntesten Novellen der lettischen Literatur an: Purva bridējsDer Mann, der durch den Sumpf watet. Der Autor dieser Erzählung ist Rūdolfs Blaumanis (1863-1908). Jedes Schulkind in Lettland muß während seiner Schullaufbahn diese Novelle lesen. Diese ist 1922 auch auf Deutsch mit dem Titel ›Durch den Sumpf‹ im Verlag Gulbis in Riga erschienen.

Es ist eine der berühmtesten Liebesgeschichten der lettischen Literatur. Edgars, der Kutscher, steht zwischen seinen Freunden, die ihn zum Leichtsinn und zum Alkohol verführen, und Kristīne, der Tochter der Wäscherin, die er liebt und die ihn liebt. Als Edgars immer wieder seinen Freunden nachgibt, nimmt sie die Werbung eines reichen Mannes an. Als sie jedoch am Traualtar steht und Edgars erblickt, geht sie die Ehe mit dem reichen Mann doch nicht ein. Kristīne ist zum Prototyp der Heldin, der Heiligen, der Retterin geworden – aber auch zum Sinnbild für das Opfer, das sich dem Schicksal beugt. Diesen Hintergrund brauchen wir, um den Text des Liedes richtig einzuordnen.

Im ersten Vierzeiler wird der Hintergrund der Handlung mit Bildern aus der lettischen Mythologie skizziert. In den mythischen Vorstellungen der Letten ist alles beseelt; da werden Vorstellungen, Feste und Ereignisse personifiziert. Zum Beispiel kommt das Weihnachtsfest als Person im Schlitten gefahren. So gibt es auch eine Person, die für den Wald und alles, was in ihm geschieht, verantwortlich ist: Die Mutter des Waldes. Ebenso gibt es die Mutter des Windes oder – wie in unserem Text – die Mutter der Dunkelheit, die Mutter des Nebels. Aus dem Text geht nicht hervor, ob die junge Sängerin des Liedes diese als zwei verschiedene Personen sieht oder ob es für sie eine Person ist, auf die sie beide Bezeichnungen bezieht.

Aus dem ersten Vierzeiler geht hervor, daß es dunkel und neblig ist. Die Erklärung der jungen singenden Frau dafür ist, daß die Mutter der Dunkelheit, die Mutter des Nebels am anderen Seeufer mit Waschen beschäftigt ist – die aufsteigende Dunkelheit und der Nebel sind Ergebnisse dieses Waschens. Auch Geräusche, die sie hört, ordnet sie in die Vorstellung des Waschens ein: Der Schlägel, mit dem die Wäsche geklopft wird, schlägt, und der Waschbläuel, der das gleiche tut, flüstert. Es herrscht eine mystische Atmosphäre, und die Sängerin zieht es ins Röhricht.

Im zweiten Vierzeiler erzählt die junge Frau, daß sie über das Wasser huscht – wie eine geflügelte Schellente. Die Erklärung, warum sie das tut, lautet: Weil sie am Ende des anderen Ufers ein goldenes Schilfrohr weiß.

Im dritten Vierzeiler wird klar, daß die Bewegung der jungen Frau über das Wasser gar nicht so leichtfüßig war, wie es im zweiten Vierzeiler schien, denn sie kommt gewatet. Sie findet das goldene Schilfrohr gebrochen. Wofür könnte das goldene Schilfrohr stehen? Wenn man sich auf den Untertitel des Liedes besinnt, könnte man meinen, daß es für einen jungen Mann stehen muß.

Diesen Gedanken stützen auch die beiden letzten Zeilen, in denen es heißt, daß die Blumenkränze junger Mädchen zu Dutzenden am Ufer welken.

Dazu muß man wissen, daß in den lettischen Vorstellungen der Kranz auf dem Kopf das Attribut einer unverheirateten, unberührten jungen Frau ist. Blumenkränze werden bei Festen, beispielsweise beim Mittsommerfest Jāņi getragen. Wenn also das goldene Rohr für einen jungen Mann und das Gebrochensein des Rohrs für seine Krankheit oder gar seinen Tod steht, dann haben viele Mädchen aus Trauer um ihn ihre Kränze in den See geworfen oder am Ufer abgelegt.

Im letzten Vierzeiler bittet die Sängerin, die Mutter der Dunkelheit, die Mutter des Nebels möge doch ihr Schultertuch heben, damit die Dunkelheit und der Nebel verschwindet. Wozu das? Damit die liebe Māra sehen kann, wie das gebrochene Schilfrohr zu heilen wäre. Māra, die Mutter aller Mütter, die in den Vorstellungen der lettischen Volkslieder für Fruchtbarkeit zuständig ist, soll kommen und den jungen Mann wiederherstellen.

Līgo ist der begleitende Ruf, der in nahezu allen lettischen Mittsommer- oder Johannisliedern vorkommt. Es gibt auch ein Verb aus dieser Wortwurzel: līgot, das so viel wie schaukeln, schwanken, tänzeln oder auch Johannislieder singen bedeutet. Bezeichnenderweise kommen aus dieser Wortwurzel auch die lettischen Wörter für Braut und Bräutigam: līgava und līgavainis.

Die Melodieführung ist in den Līgo-Passagen sehr schaukelnd und tänzelnd, was dem Ruf und seiner Bedeutung entspricht. Die Melodie in den Textpassagen ist eine bekannte alte Johannislied-Melodie.

Lilija Tenhagen
, 10.05.2016