Gerhard Hess

Wir müssen zwischen dem ursprünglichen Runenjahrkalender und dem neuzeitlichen unterscheiden. Nach Gerhard Hess ist eigentlich davon auszugehen, daß bei Annahme eines idealen runischen Mond-Sonnenjahres des ursprünglichen Runenjahrkalenders die erste Rune (othala) in die Neumondnacht der Wintersonnenwende zu stellen ist – oder mindestens auf den der Winter­sonnen­wende nächstliegenden Neumond.

In dieser Auf­teilung nach dem Natur­jahr gilt immer allein der Neumond als Jahresanfangsmondstand. Die folgenden 23 Runen werden ihrer Reihen­folge entsprechend auf die weiteren Voll- und Neu­mondstände des Sonnenjahres verteilt. „Bei dieser Ordnungsregel beeinflußt – dem runenmythischen Denken entsprechend – jede Rune nicht nur ihre zeitlich enge Mondphase, sondern die gesamte jeweilige Mond­zunahme- oder -abnahmespanne.“ Diese Struktur hatte zwar ihre Berechtigung in einer Zeit, wo man ohne Taschenplaner oder Uhren auf die rein natürlichen Zeitweiser wie Sonne, Mond und Sterne angewiesen war.

Die heutige Einteilung des Sonnenjahres in 12 feststehende Monate löst uns aber von der Mondstandabhängigkeit. Und so kann man, mit der Wintersonnenwende Mitte Dezember als Zyklusbeginn, auf Monats­anfang und Monatsmitte je eine Rune legen. „Bei dieser Verfahrensweise bleibt der ursprüngliche Zweck des Runenkalenders uneingeschränkt erhalten, welcher ja nur Sakral­festvorgaben für das Sonnenjahr liefern sollte. Wer trotzdem auch heute noch Runen-Mondfeste begehen möchte, muß lediglich die den runischen Kalenderpositionen nächstliegenden Neu- oder Vollmonde als Festzeit wählen.“ (G. Hess: Der germanische Festkreis)

Die Runenzyklen sind mit den jeweiligen Sakralfesten gekennzeichnet und mit einer kurzen Erläu­terung ergänzt (entnommen aus Gerhard Hess: Mond-/Sonnen-Runen-Festweiser, Hünstetten 2001; ders.: ODING-Wizzod, München 1993).

othala: Erbgut/Art
Phonetischer Wert : o
Tierkreis: Schütze

Wintersonnenwende
Sakralfest: Mütternacht Geburt des Lichtbringers Frö-Baldur.

Seit dem christlichen Diktat, das Julfest von Mitte Januar auf den Wintersonnwendtermin (24.12.) des julianischen Kalenders zu verschieben, wurden heidnische Julbräuche auf diesen Tag gelegt. Beispielsweise nimmt in Schweden der Julbock (Symboltier des Donar-Thor), in Deutsch­land der Weihnachtsmann (Jul-Wodan), in Böhmen das goldene Schweinchen (Symboltier des Jul-Frö) die Be­scherung vor.

Der sinnbildhafte Kopf, das (-Rune), raunt von unvergänglicher Seelenkraft aus feinstofflichem Ur-Etwas, wohin wir uns zurücksuchen sollen, aber keinesfalls als Traumtänzer und haltlos jenseitsflüchtige Spekulanten. Vielmehr bedürfen wir auch des (-Rune), des festen Fußes der pekuniären Grundlage, denn hierbei handelt es sich auch um ein Synonym für ›Vieh‹ bzw. ›Hab und Gut‹. Trotz seiner Wichtigkeit muß es nachgeordnet sein; so liegt die ganze Runenwelt zwischen und – zwischen Seele und Besitz –beschlossen.

 im Jahreskreis: Mitte Julmond / Dezember

Mit der -Rune, am rechten Ende der Runenreihe des Oding-Futark, beginnt die Lesung, denn in jeder guten Ordnung muß das Rechte-Gerechte dem Linken-Linkischen vor- und übergeordnet sein. Mit diesem Schlingenzeichen und dem zugehörigen Begriff Oðala wird sinnbildhaft der erste Knoten des ideellen Weltgewebes geknüpft.

Er heißt ›Vaterland‹; noch in mittelalterlichen angelsächsischen Epen bedeutet dieser Begriff ›Heimat‹. Der Erbbesitz ist gemeint, im weitesten Sinne von Muttererde und Hei­mat, und die damit verknüpfte Vorstellung eines pflanzengleich mit dem Boden verwachsenen, aus ihm hervorsprossenden und wieder zurücksinkenden Seelenbandes, das sich von Geschlecht zu Geschlecht schlingt. Aus dem Heimatboden nähren sich die Sip­pen, er läßt sie wachsen und gedeihen, und in ihn sinken sie am Ende wieder zurück, neuen Wiedergeburten entgegenzuschlummern.

Wer wollte bestreiten, daß es das Heimatland ist, welches die Menschen im Zuge der Jahrtausende körperlich und seelisch formt? So handelt es sich auch um die Rune für die angeborenen Eigen­arten unseres ganzheitlichen Ursprungs, resultierend aus dem Ergebnis göttlicher Abstammung zuzüglich der in der Ver­gan­gen­heit von den Vorfahren gesetzten Handlungen, welche als Mitprä­gungen im genetischen Code der Nachkommen gespeichert sind.

Die Rune meint das Erbe, sowohl im materiellen als auch spirituellen Bereich. Sie steht für  die organisch gesunde Gesamt­heit von Scholle und Seele, von Odal und Odem, der gottgesegneten Zu­sam­­mengehörigkeit und gegenseitigen Bedingung und Ergän­zung von Landesart und einer daraus hervorgegangenen seelisch-charakterlichen Wesenheit bodenständigen Menschen­tums. Damit will uns die Rune Erinnerung wie Mahnung sein, jegliches Erbe der Heimat und ihrer menschlichen Erscheinungsart in pfleglicher Obhut zu schirmen und im rechten Sinne weiterzuentwickeln.

 

Der Begriff für den Runenbuchstaben „O“
meint das Vaterland, Mutterland ebenso.

Des Anfanges Ausdruck, der sich empfahl,
jene Bezeichnung der ersten Runenzahl,

ist Othala, Odal, Ot, das „ererbte Gut“,
das Stammland, Erbland, die Lebensflut;

in die schon der Vorzeit Eltern sanken,
aus der die Geschlechter Leben tranken,

in die auch die Enkel hinsinken werden,
in die flutenden, ebbenden Sippenerden.

Odal ist der Besitz an Grund und Boden,
dazu zählen die Seelen unter den Soden.

Dazu gehören die Geister in den Grüften,
auch wenn die Leichten lärmen in Lüften,

in heimatlichen Hügeln sind sie zu Hause,
jeder Berg birgt eines Bruders Klause;

über den Wassern weben die Ahnenseelen,
im Fruchtfeld darf ihr Segen nie fehlen;

ein jeder ist mit der Scholle verwandt,
die Schicksalslose verleiht ihm sein Land.

Beisammengebunden sind Boden und Blut,
sie formen des Landes und Volkes Mut.

Die Geister gestalten der Heimat Gefilde,
die Heimat formt Geister nach ihrem Bilde.

 

Beitragsbild: Jan Fibinger