Roberto Pecchioli

“Gut gegraben, alter Maulwurf!”, rief Hamlet aus, als er den Geist seines Vaters sah, der dem Prinzen von Dänemark so fern von seiner Begräbnisstätte erschien. “Gut gegraben, alter Maulwurf”, wird Karl Marx in ›Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte‹ wiederholen, im Vertrauen auf den Geist der proletarischen Revolution.

Der Maulwurf, der am tiefsten gegraben hat, trägt die Idee des Fortschritts, die im 18. Jahrhundert entstand und zum Totem und Tabu der westlichen Moderne wurde. Sie entstand, als das Bedürfnis entstand, dem Menschen, der von allen religiösen Inhalten befreit war, ein Schicksal mit materieller Bedeutung zuzuweisen. Die Erfindung des Fortschritts ist zu einer Ideologie geworden, so daß sich Parteien und kulturelle Kräfte als progressiv bezeichnen und diejenigen, die nicht auf ihrer Seite stehen, das Bedürfnis haben, sich zu rechtfertigen, ihre Ablehnung einzugrenzen oder zu leugnen.

Was bedeutet es, sich dem Fortschritt der Menschheit, der positiven Bewegung hin zu höheren Stufen oder Stadien, das implizite Konzept der Perfektion, der Evolution, der ständigen Veränderung hin zum Besseren entgegenzustellen?

Der Optimismus des 19. Jahrhunderts ließ Giuseppe Mazzini schreiben: “Wir wissen heute, daß das Gesetz des Lebens der Fortschritt ist, mit einem Mißbrauch der Großbuchstaben”. Fortschritt ist der Sinn der Geschichte (noch eine Kapitalisierung; aber gibt es den Sinn der Geschichte überhaupt?), der festgelegte Weg, das Evangelium des Guten und Gerechten. Jeder, der sich dem Weg in den Weg stellt, kann nur ein Verrückter sein, ein törichter Störenfried, dem das Wort entzogen werden muß. Ihm zuzuhören würde bedeuten, rückwärts zu gehen, sich selbst in die zweite Liga abzustufen: Rückschritt. Fortschritt ist Licht, jeder Einwand ist Dunkelheit. Kurz gesagt: Fortschrittlich zu sein ist eine Pflicht, eine Selbstverständlichkeit, ein säkularer materieller Glaube. Wie der Satz über die Liebe, der in die Ringe von Verlobten eingraviert ist: mehr als gestern, weniger als morgen.

Das Schicksal der Menschheit ist “wunderbar und fortschrittlich”. Wer das nicht glaubt, ist ein verfluchter Reaktionär, ein Wrack aus der Vergangenheit, das es nicht verdient, widerlegt zu werden: Der Sinn und die positive Richtung des Fortschritts sind unbestreitbar, ähnlich wie bestimmte unbewiesene mathematische Postulate, deren Gültigkeit a priori angenommen wird, oder Axiome, Prinzipien, die als wahr angenommen werden, weil sie als offensichtlich gelten oder weil sie den zentralen Punkt eines theoretischen Bezugsrahmens bilden.

Ganz und gar nicht! Und die Widerlegung kommt nicht von einem eingefleischten Lobpreiser der alten Zeiten oder dem sogenannten “Unabomber”, sondern von einem der hellsten “linken” Intellektuellen, Christopher Lasch, dem Autor von ›Das Zeitalter des Narzissmus‹ und ›Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung‹. Wenden wir auf den amerikanischen Historiker und Soziologen (1932-1994) der Einfachheit halber die Rechts-Links-Kategorisierung an, die er stets abgelehnt hat. Lasch war vielmehr ein Populist, der die Volkskulturen liebte, ein Sozialist sui generis und vor allem ein frei denkender Intellektueller. In ›Das einzig wahre Paradies‹ (Le seul et vrai paradis. Une histoire de l’idéologie du progrès et de ses critiques.) – ein sehr polemischer Titel – erklärt er, daß der Ausgangspunkt seiner Überlegungen die folgende Frage ist: “Wie kommt es, daß so viele ernsthafte Menschen weiterhin an den Fortschritt glauben, obwohl die Masse der Beweise sie dazu hätte bringen müssen, diese Idee ein für alle Mal aufzugeben”?


Überkommene und übernommene Ideen halten sich hartnäckig, und der Fortschritt ist die Leitidee der Massenkultur. Ein bemerkenswertes Mißverständnis, ja sogar ein Blinklicht für diejenigen, die mit marxistischen Ideen aufgewachsen sind, die überhaupt nicht von Fortschritt sprechen, sondern von der Befreiung von den Fesseln des Kapitalismus, deren Leitgedanke die Notwendigkeit einer ständigen Revolutionierung der Gesellschaft ist. Selbst Proudhon warnte vor dem törichten Optimismus derjenigen, die den materiellen und wirtschaftlichen Fortschritt mit dem geistig moralischen Fortschritt verwechseln.

Das schrieben auch Marx und Engels im Manifest von 1848. “Wo es der Bourgeoisie gelungen ist, zu herrschen, hat sie alle feudalen, patriarchalischen und idyllischen Lebensbedingungen zerstört. Sie hat rücksichtslos alle farbenprächtigen feudalen Bande zerrissen, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten gebunden haben, und hat zwischen Mensch und Mensch keine andere Verbindung gelassen als die des bloßen Zinses, der kalten ›Geldzahlung‹. Sie hat die persönliche Würde im Tauschwert aufgelöst, und an die Stelle der unzähligen ehrlich errungenen, patentierten Freiheiten hat sie allein die skrupellose Freiheit des Handels gesetzt. (…). Die Bourgeoisie hat alle Tätigkeiten, die bis dahin verehrt und mit frommer Ehrfurcht betrachtet wurden, ihres Heiligenscheins beraubt. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Priester, den Dichter und den Mann der Wissenschaft in Lohnabhängige mit eigenem Gehalt verwandelt. Die Bourgeoisie hat den emotionalen Schleier der Familienbeziehung zerrissen und sie auf eine reine Geldbeziehung reduziert” (Übersetzung aus dem Französischen).

Die Erfindung des Fortschritts ist die außergewöhnlichste Errungenschaft des Kapitalismus, dessen Ziel es ist, jede Barriere, jede Idee und jedes Prinzip niederzureißen, um alles auf den in Geld meßbaren Tausch zurückzuführen. Er muß jedwede Wurzel ausreißen, um den Homo consumens in einer Einheitsgröße zu konstruieren – eindimensional, wie Herbert Marcuse sagt – eine Leere, die mit der Bildersprache der Waren und der unerfüllten Rhetorik der Wünsche gefüllt werden muß; eine Wunschmaschine ohne Kompaß, die sich unaufhörlich dreht auf der Suche nach dem Neuen, das programmatisch besser ist als das Vergangene, “mehr” als das “weniger” von gestern, das diskreditiert, verspottet und unterdrückt wurde. Und doch hat Marx, wieder er, in den Manuskripten ein entscheidendes Konzept ausgedrückt, das dem Progressivismus entgegengesetzt zu sein scheint: Die eigentliche Grundlage ist der Mensch.

Seiner Wurzeln beraubt, entledigt sich der Mensch im Namen des Fortschritts seiner selbst und begrüßt mit selbstgefälliger Begeisterung alles Neue, das gleichbedeutend mit Fortschritt ist. Mit der Erfindung des Fortschritts und seiner Einführung in die Massenkultur ist das Spiel vorbei: Es wird zur Selbsttäuschung, zum falschen Glück, das das Banner der Unterwerfung unter die kapitalistische Ordnung hochhält. Progressive Menschen mit sozialistischem und kommunistischem Hintergrund, die ihre Revolutionsängste aufgefrischt haben, begreifen die Niederlage nicht, sondern nehmen die vom unbegrenzten Rennen beherrschte Gegenwart (Paul Virilios ›Dromokratie‹, der endlose Marathon, der für Fortschritt gehalten wird) als einen Sieg wahr: ein halluzinierendes Spiel mit Spiegelbildern. Die ›Frankfurter‹ haben dies erkannt und darauf hingewiesen, daß die Massenkultur und die Idee des Fortschritts die Menschen nicht befreit, sondern sie zu willigen Opfern von Werbung und Propaganda gemacht haben. Warenform und Gesellschaft des Spektakels: Entfremdung an der Macht.

Ein Irregulärer des Sozialismus, der sich nicht damit abfindet, in der progressiven Suppe zu ertrinken, Jean-Claude Michéa, ist sich dessen bewusst. Für ihn enthüllt die Idee des Fortschritts, die wie ein verrückter Wettlauf ohne Ziellinie dekliniert wird, die beiden verborgenen Postulate der liberal-libertären Gesinnung, der Matrix des Progressivismus.

Die erste ist das Festhalten an der Vorstellung, daß der Mensch nur eine begehrende Maschine ist, die von ihrer Natur dazu gezwungen wird, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Ist diese Reduktion erst einmal als zwingende Begleiterscheinung des Fortschritts etabliert, macht sie jeden Einwand unmöglich. Der Fortschritt beugt sich der sogenannten ›Mystik der Rechte‹, die zu einer Art Anspruch aller auf alle werden. Damit wird letztlich alles gerechtfertigt, von der rücksichtslosesten Ausbeutung bis hin zu neuen Rechten, die mit der sexuellen und triebhaften Sphäre verbunden sind.

Der Fortschritt ist die Ideologie des Homo oeconomicus, parallel zum Maschinenmenschen und dem Individuum, das sich von allen traditionellen Überzeugungen oder Strukturen emanzipiert. Ein endloser Prozess – wie auch der Faden des Fortschritts endlos ist –, der eine aufsehenerregende Kehrseite hervorbringt, eine Heterogenität der Zwecke: die Unterwerfung unter neue Formen der Herrschaft und Autorität: “den modernen Staat und seine Juristen, den selbstregulierten Markt und seine Ökonomen und natürlich das Ideal der Wissenschaft als imaginäre und symbolische Grundlage dieses neuen historischen Ganzen”.

Unglaublich ist der Wandel oder die Umwertung der Werte, die der liberal-libertäre Progressivismus seinen Feinden von gestern auferlegt hat. Marcuse prangerte zunächst die “repressive Toleranz” der Macht in den westlichen politischen Gesellschaften an, die Tendenz, den technologischen Fortschritt mit der menschlichen Emanzipation gleichzusetzen. Er bekräftigte den Schwindel der demokratischen Gesellschaften, die jede Form der Opposition unmöglich machen. Das Eingangszitat von ›Der eindimensionale Mensch‹ lautet: “Eine bequeme, höfliche, vernünftige und demokratische Unfreiheit herrscht in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation vor, ein Zeichen des technischen Fortschritts“ (aus dem Französischen übersetzt). Die Lösung ist jedoch Teil des Übels: Befreiung durch den Eros, Verneinung des Autoritätsprinzips, künstliche Paradiese und Abschottung in der subjektiven Dimension. Genau das, was der globalistische Neokapitalismus braucht, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten.

Das andere Element, das die Ideologie des Fortschritts legitimiert, indem es sie übergreifend macht, ist der Kardinalfehler der “modernen” Linken, die in dem Glauben feststeckt, daß der Liberalismus eine konservative oder sogar reaktionäre Kraft ist. Viele von ihnen, seufzt Michéa, “wettern noch gegen die autoritäre Familie, den sexistischen Moralismus, die literarische Zensur, die Arbeitsethik und andere Pfeiler der bürgerlichen Ordnung, obwohl diese nun durch den fortgeschrittenen Kapitalismus zerstört oder untergraben werden.” Nichts ist unsinniger als die Behauptung – oder das Mißverständnis – des Fortschritts, er stehe für Gerechtigkeit und das Gute: Seit dem 18. Jahrhundert und der Aufklärung sind Vernunft, Wandel und Fortschritt die Aushängeschilder und Folgen der liberalen Wirtschaftsordnung, deren Leitstern der Markt ist, der für Harmonie zwischen rationalen, allein von Interessen getriebenen Individuen sorgt, denen Abstammung und Bindung als untragbare Hindernisse für den Fortschritt vorenthalten werden.

Die Tatsache, daß der Fortschritt trotz unbestreitbarer Verbesserungen vieler materieller Bedingungen nicht zum Glück führt, schreckt seine Anhänger nicht ab: Man muß nur das Objekt der Begierde verlagern, neue Errungenschaften vor sich hertragen, und schon ist die Sache im Lot.

Eine weitere Folge des Fortschrittsaberglaubens ist der seltsame Suprematismus der Gegenwart, demzufolge die Menschen, die vor uns gelebt haben, uns unterlegen sind; sie hatten weniger Mittel und weniger Rechte, also ist auch ihre Menschlichkeit geringer als die unsrige. Der progressive “Präsentismus” versucht, die Zukunft hinauszuschieben, indem er sie auf die Gegenwart drückt, da er sonst viel von seiner Wirksamkeit und Attraktivität verlieren würde. Denn der Fortschritt von morgen wird dem unseren überlegen sein, mit dem daraus resultierenden Verlust des Selbstwertgefühls und der Relativierung des Heute. Die Herren des Fortschritts wissen das und handeln dementsprechend. Sie erzeugen eine ständige Angst, die für den Fortschritt – den Prozess, der nicht gestoppt werden kann – konstitutiv ist; eine innere Unruhe, die uns vom Neuen, vom Konsum und von den Wünschen abhängig macht.

Anstatt unsere Möglichkeiten zu erweitern und unseren Geist zu öffnen, wie die Positivisten und Pragmatiker glaubten, erzeugt der Fortschritt Spannungen, Konkurrenzdenken, Angst und Sozialneid, gegen die es kein anderes Mittel gibt, als immer höhere Dosen des Medikaments zu verabreichen, das die Krankheit hervorgerufen hat. Darüber hinaus verzichtet sie, da sie jegliche Vergangenheit verachtet, auf eine Konfrontation und gibt sich mit der Überlegenheit der Mittel der Gegenwart zufrieden. Hierin liegt einer der progressiven Widersprüche: Das Übermaß an Mitteln vernebelt die Zwecke so sehr, daß sie verleugnet werden.

Der Fortschritt in der Form, wie er in der Massenkultur gelebt wird, ähnelt immer mehr dem vergeblichen Rundlauf des Hamsters im Rad und im Käfig. Die Erfindung des Fortschritts und der blinde Glaube, den sie erzeugt, sind die Mauern des Gefängnisses ohne Gitter, das das heutige Leben hektisch und nimmersatt macht.

Früher oder später wird auch dem Fortschritt die Luft ausgehen, und die Menschen werden umkehren und ein natürlicheres, im edlen Sinne des Wortes menschliches Leben akzeptieren. Der Maulwurf wird des Grabens müde werden und sich die Hinterlassenschaften seiner langen Arbeit ansehen. Vielleicht wird das eintreten, was sich Ennio Flaianos genialer Leichtsinn ausgedacht hat: Selbst der inzwischen alt und weise gewordene Fortschritt wird dagegen stimmen.

Quelle: https://www.terreetpeuple.com/philosophie-reflexion-72/5405-linvention-du-progres.html
Originalquelle: https://www.ereticamente.net/2022/10/linvenzione-del-progresso-roberto-pecchioli.html
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