
Georges FELTIN-TRACOL
Die monotheistische Geschichtsauffassung, aus der sich die christliche und marxistische Sichtweise ableiten, läßt sich in dem berühmten “Sinn der Geschichte” zusammenfassen, der mit einer “Vorgeschichte” begonnen hat und in einer “Nachgeschichte” enden wird.
Friedrich Nietzsche, der sich seinerseits von den alten Griechen inspirieren ließ, entwarf beim Bergwandern im Schweizer Engadin die “Ewige Wiederkehr“. Er führte die ›Zyklizität der Geschichte‹ wieder in die zeitgenössische europäische Philosophie ein. Es existieren jedoch auch andere Geschichtsbetrachtungen. Denken wir zum Beispiel an die sphärische Geschichte von Giorgio Locchi.
1992 erklärte ein französischer Technikhistoriker, daß “die Geschichte zyklisch ist. […] Nur wenige Historiker haben sich mit den Mechanismen befaßt, die die Entwicklung von Zyklen steuern, und noch weniger haben sich mit der Entwicklung von Technik und Wissenschaft in den Gesellschaften der Vergangenheit befaßt“.
Jean Gimpel (1918 – 1996) schätzt “den Begriff des historischen Zyklus” auf eine Dauer von “durchschnittlich etwa zweihundertfünfzig Jahren“. Seine Einschätzung beruht auf den Überlegungen des arabischen Historikers Ibn Khaldoun (1332 – 1406) und des Anführers der arabischen Legion in Jordanien, John Bagot alias Glubb Pascha (1897 – 1986), der 1976 einen Artikel mit dem Titel ›The Fate of Empires‹ (Das Schicksal der Imperien) verfaßte.
Er bekennt sich auch zu Oswald Spengler (1880 – 1936). “Was mich besonders für Spenglers Werk sensibilisiert hat, war sein tiefes Verständnis für das technische und wissenschaftliche Genie des Mittelalters. Er ist wohl der erste Historiker, der verstanden hat, dass unsere Gesellschaft auf den Arbeiten der Ingenieure und Wissenschaftler dieser Epoche aufgebaut wurde.“

Jean Gimpel
Der Westen als technische Dekadenz
Mit ›Le déclin technologique et la crise de l’Occident‹ (1) (›Das Ende der Zukunft. Der technologische Niedergang und die Krise des Westens‹) hat Jean Gimpel eine neue Kontroverse ausgelöst. Gimpel, der sich auf industrielle Verfahren und andere Fertigkeiten des Mittelalters spezialisiert hat und Autor von ›Les Bâtisseurs de cathédrales‹ (›Die Erbauer von Kathedralen‹, 1958) ist, erregte 1975 mit seinem Buch ›La révolution industrielle du Moyen Âge‹ (›Die industrielle Revolution des Mittelalters‹) Aufsehen. Darin erklärte er, daß Westeuropa zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Renaissance einen proto-industriellen Aufschwung erlebte, obwohl es weder Dampfmaschinen noch Manufakturen gab. Diese Behauptung ist gewagt, zumal die jüngste Geschichtsschreibung das Konzept der ›industriellen Revolution‹ selbst in Frage stellt. Die erste ›Industrialisierung‹, die Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien begann, beruhte auf der Dampfmaschine und der Kohle. Die zweite wäre die der Kohlenwasserstoffe. Die dritte, die gerade im Gange ist, würde von Elektrizität und Computern abhängen. Jean Gimpel mißtraut dieser Periodisierung.
In ›La fin de l’avenir à la lumière du Déclin de l’Occident spenglérien que‹(›Das Ende der Zukunft im Lichte von Spenglers Untergang des Westens‹) meint er vielmehr, daß “der Westen [wie die Gesellschaften vor ihm] auf einem technologischen Plateau angelangt [ist]“. Der Autor schränkt seine Aussage sofort ein, indem er feststellt, daß “die Atomkraft die Harmonie der Zyklen durchbricht. Der heutige wissenschaftliche Zyklus ist […] ganz anders als die vorhergehenden, weil wir eine Technik geschaffen haben, die die Welt zerstören kann: die Atombombe“.
Jean Gimpel ist nicht besonders scharfsinnig, wenn er meint, daß “der Ursprung der tiefen Krise, die der Westen heute durchlebt, in der sehr starken Verlangsamung der technologischen Innovation liegt. Eine Innovation ist eine Erfindung, die finanziert, getestet, vermarktet und vom Markt akzeptiert wurde“. Als er diese Zeilen Anfang der 1990er Jahre schrieb, steckten die Computer- und Digitaltechnik noch in den Kinderschuhen. Die Textverarbeitungsprogramme, die die mechanischen und elektrischen Schreibmaschinen vorteilhaft ersetzten, waren relativ teuer.
In einem Kapitel wird verkündet: “Die Informatik versagt“. Dort heißt es, daß “das Investitionsniveau in diesem Sektor nie wieder das gleiche sein würde“. Es wird prognostiziert, daß “in den 90er Jahren kein Aufschwung in der Computerbranche zu erwarten ist“. Der Aufschwung der Computerwelt wird durch die vom Pentagon beschlossene Entmilitarisierung des zukünftigen Internets kommen. Erst ab 1995 beginnt die “neokybernetische Revolution” wirklich. Handys gibt es bereits. Sie sind jedoch noch schwer, sperrig und unhandlich. Außerdem gibt es nur wenige Telefonsäulen.
Und dann erinnern wir uns: Wer auf offener Straße laut mit einem unsichtbaren Gesprächspartner spricht, wirkt wie ein Geisteskranker, der aus der nächsten psychiatrischen Klinik geflohen ist… eine weitere ungeschickte Interpretation von Jean Gimpel, der “den Niedergang der Zauberlehrlinge” ankündigte. Er ahnte nicht, daß das Klonen des Schafs Dolly im Jahr 1996, die Genmanipulationen und der transhumanistische Wahn in Kürze kommen würden, während er auf das schicksalhafte Erscheinen der Cyborgs und der künstlichen Quantenintelligenz wartete.
Der Autor zieht es vor, sich selbst zu beruhigen, indem er gutgläubig verkündet, “was es dem Westen ermöglicht, sich vorübergehend auf diesem technologischen Plateau – vor dem unausweichlichen Niedergang – zu halten, nämlich das Wiederaufleben traditioneller Techniken, die durch Spitzentechniken modernisiert und wiederbelebt werden“.
Die Zukunft der Vergangenheit
Jean Gimpels Ansatz ist dem ›Archäofuturismus‹ von Guillaume Faye einerseits und dem “Retrofuturismus” andererseits nicht unähnlich. Unter “Retrofuturismus” versteht man eine literarische Strömung der ›Science-Fiction‹, deren Handlung in einem vergangenen Universum mit futuristischen Objekten spielt. Beispielsweise kämpft ein römischer Legionär des Augustus mit dem Lichtschwert gegen einen Samurai.
›Steampunk‹ ist eine uchronische, retro-futuristische Kategorie, die auf die Werke der französischen Schriftsteller Jules Verne (1828 – 1905) und Albert Robida (1848 – 1926) zurückgeht. Dieses Genre ist in einem 19. Jahrhundert angesiedelt, in dem es dampfbetriebene Computer und Luftschiffe für den Transport gab.
Das 1998 erschienene Buch ›L’archéofuturisme‹ (Archäofuturismus) markiert Guillaume Fayes flammende metapolitische Rückkehr nach einem Jahrzehnt der Mitarbeit am ›Echo des Savanes‹. Dieser Essay entwickelt, erweitert und vertieft die Themen, die in seinem sehr verkannten ›Europa und die Moderne‹ (2) aufgeworfen wurden.
›Archäofuturismus‹ bedeutet, “für die Gesellschaften der Zukunft die Fortschritte der Techno-Wissenschaft und die Rückkehr zu den traditionellen Lösungen aus der Urzeit zusammenzudenken. […] Nach der Logik des Und, nicht des Oder, die älteste Erinnerung und die faustische Seele zusammenzubringen, weil sie zusammenpassen. Der intelligente Traditionalismus ist der mächtigste Futurismus und umgekehrt. Evola und Marinetti versöhnen. […] Man sollte nicht die Altvorderen mit den Modernen verbinden, sondern die Altvorderen mit den Futuristen (3)“.
Jean Gimpel nimmt diesen nicht-modernen Ansatz gerne vorweg. “Raketen und Propeller erleben eine zweite Jugend, ebenso wie das Luftschiff und die Wetterballons, der Zug – der TGV –, die Straßenbahnen, Keramik und Ziegel, Gusseisen und Metallstrukturen, Kreide und die Tafel, Baumwolle und Wolle. Es ist von größter Bedeutung, dass sich die Wirtschaftsführer und Industriellen dieser Ausrichtung voll bewusst sind, um die Forschung und die Investitionen in diesem lukrativen und relativ wenig genutzten Bereich zu fördern. Nur Italien geht in diesem Bereich mit gutem Beispiel voran“.
Der Autor freut sich über das wiedererwachte Interesse an Wasserbussen, Segeln und Fahrradfahren. Letzteres hatte lange Zeit ein veraltetes und altmodisches Image. Anfang der 1990er Jahre begann sich die “kleine Königin” zu wandeln: “Profilierung der Stähle, Entwicklung von dosierten Stahl-Chrom-Molybdän-Legierungen, Studien im Windkanal“. Bei den Reifen hat Michelin eine Generation von Reifen entwickelt, die praktisch unzerstörbar sind. Gut informierte Quellen berichten, daß ukrainische Kampfeinheiten lokal hergestellte Elektrofahrräder der Firmen Delfast und Eleek einsetzen, um den Vormarsch russischer Panzer zu vereiteln. Das Modell Defast Top 3.0 (Foto) beispielsweise ist ein Elektrofahrrad, das wie ein Geländemotorrad aussieht und beeindruckende Leistungsdaten aufweist (320 km Reichweite, eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h und die Fähigkeit, schwere Lasten zu transportieren) (4). Jean Gimpel betont schließlich die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene ein großes, zusammenhängendes Netz von Kanälen zu schaffen, denn “man hat errechnet, dass man mit einer Pferdestärke 150 kg auf der Straße, 500 kg mit dem Zug und 4000 kg auf dem Wasserweg transportieren kann“.
Morgen, Italien
Jean Gimpel zieht in diesem atypischen und anregenden Buch eine verwirrende Parallele zwischen der Zeit des Mittelalters und den Vereinigten Staaten von Amerika. Er datiert den Beginn ihres Niedergangs auf das Jahr 1971, als der Kongress sich weigerte, die erforderlichen Mittel für das Projekt einer “US-Concorde” zu bewilligen.
Für die Zukunft Frankreichs ist er weniger pessimistisch, befürchtet aber dennoch, daß das ›Hexagon‹ einem “gemeinsamen unvermeidlichen Untergang nicht entgehen wird, da es Teil der westlichen Welt ist, die […] keine “junge Nation in Reserve” mehr hat. Sie ist bereits von der “Sinistrose” (Untergangstimmung)(5) betroffen, die die westliche Welt als Ganzes erfaßt hat. Es droht nun ein “Wall Street Crash“.
Seiner Meinung nach wird der Zusammenbruch unseres kranken Systems den Westen “in ein politisches und wirtschaftliches Chaos stürzen, das dem in der ehemaligen Sowjetunion heute (1992) ähnelt, und wir werden den Zerfall unserer industriellen Zivilisation erleben“. Wäre das dann der Beginn eines ›neuen Mittelalters‹? Oder vielleicht doch nicht?
Jean Gimpel ist jedoch der Ansicht, daß Italien “als Modell für Länder dienen kann, die ihre allgemeine Wirtschaftsleistung verbessern wollen“, da es “am erfolgreichsten Spitzentechnologien in traditionelle Industrien eingeführt hat“. Er stellt fest, daß “der italienische Erfolg auf den sogenannten Artigiano-Unternehmen (Handwerksbetriebe) beruht, die ihre Wurzeln in der Familie haben und in Gemeinschaften verankert sind, in denen Werte, Überzeugungen, Loyalität und Interessen geteilt werden“. “Wenn unsere Zivilisation schließlich zusammenbricht […], wenn die multinationalen Konzerne zerfallen, werden sich die Artigiano-Unternehmen, die viel flexibler sind, an die neuen wirtschaftlichen Umstände anpassen.” Liegt hier nicht ein erster Aufruf zu einem damals noch nicht existierenden Lokalismus vor?
Dieser kühne Essay von Jean Gimpel zeigt, daß die Zukunft noch nicht vorbei ist, vorausgesetzt, die Zukunft weiß sich umzudrehen und erkundet intelligent die Wege der Vergangenheit, um ein mögliches vielversprechendes Morgen besser zu bestimmen.
Anmerkungen:
1: Jean Gimpel, Das Ende der Zukunft. Le déclin technologique et la crise de l’Occident, Le Seuil, 202 S. Die Zitate stammen aus diesem Buch.
2: Guillaume Faye, Europe et modernité, Eurograf, 1986.
3: Guillaume Faye, L’archéofuturisme, L’Æncre, 1998. Interessant zu lesen ist Robert Steuckers, “Guillaume Faye et la vision archéofuturiste“, online gestellt am 24. Mai 2022 auf Euro-Synergies.
4: Marc Zaffagni, “Ukrainische Soldaten nutzen leistungsstarke Elektrofahrräder, um russische Panzer zu neutralisieren“, online gestellt auf futura-sciences.com am 23. Mai 2022.
5: Der Ausdruck “Sinistrose” stammt von Louis Pauwels in seiner aristokratisch-heidnischen Periode.