
Mark Rowlands
Auszug aus seinem Buch:
Sisyphus war ein Sterblicher, der die Götter irgendwie verärgert hatte. Wie genau, ist nicht bekannt, denn die Geschichten unterscheiden sich. Die vielleicht populärste Darstellung besagt, daßs Sisyphus nach seinem Tode Hades, den Gott der Unterwelt, überredete, ihn vorübergehend zu einer dringenden Mission auf die Erde zurückkehren zu lassen. Er versprach, sich nach Beendigung der Aufgabe sofort wieder in der Unterwelt einzustellen. Doch als Sisyphus erneut das Tageslicht gesehen und die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht verspürt hatte, wollte er nichts mehr mit der Dunkelheit der Unterwelt zu tun haben und blieb bei seiner Frau auf der Erde. Er ignorierte zahlreiche Mahnungen und Anweisungen, das irdische Leben hinter sich zu lassen, und verbrachte noch viele weitere Jahre im Licht. Schließlich wurde er nach einem Erlaß der Götter mit Gewalt in die Unterwelt zurückgebracht, und dort wartete sein Felsblock.
Sisyphus’ Bestrafung bestand darin, diesen gewaltigen Felsblock einen steilen Hang hinaufzurollen. Wenn er die Aufgabe nach vielen Tagen, Wochen oder sogar Monaten erschöpfender Arbeit vollbracht hatte, rollte der Stein wieder zum Grund des Hügels hinunter, und Sisyphus mußte seine Mühsal erneut beginnen. Und so bis in alle Ewigkeit. Es ist eine wahrhaft schreckliche Bestrafung, zu der wohl nur die Götter fähig wären. Aber was genau ist das Schreckliche daran?
In den häufigsten Versionen des Mythos betont man die Schwierigkeit von Sisyphus’ Aufgabe. Der Fels hat gewöhnlich eine solche Größe, daß er kaum in Bewegung gesetzt werden kann. Daher werden Sisyphus’ Herz, Nerven und Sehnen bei jedem Schritt den Hügel hinauf bis zum Äußersten angespannt. Doch ist es zweifelhaft, wie Richard Taylor hervorhebt, daß der wirkliche Schrecken von Sisyphus’ Strafe in ihrer Schwierigkeit besteht. Nehmen wir an, die Götter hätten ihm statt eines massiven Felsblocks einen kleinen Kiesel gegeben, den er mühelos in die Tasche stecken konnte. Dann hätte Sisyphus in aller Ruhe zur Spitze des Hügels spazieren und Zusehen können, wie der Kiesel hinunterrollte, bevor er sein Werk erneut antrat. Obwohl diese Aufgabe weniger anstrengend ist, scheint sie den Schrecken von Sisyphus’ Strafe kaum zu mindern.
Wir sind Tiere, die meinen, daß Glück das Wichtigste im Leben sei. Deshalb sind wir versucht anzunehmen, der Schrecken von Sisyphus’ Strafe liege darin, daß er sie haßt, daß sie ihn zutiefst unglücklich macht. Aber auch das scheint nicht zuzutreffen. Wir können nur mutmaßen, daß Sisyphus sein Schicksal verabscheute. Was aber, wenn die Götter weniger rachsüchtig wären, als es der Mythos darstellt? Nehmen wir an, sie hätten Schritte eingeleitet, um sein Unglück zu mildern und ihn mit seinem Schicksal zu versöhnen. Sie taten es, indem sie Sisyphus einen irrationalen, doch gleichwohl heftigen Drang einpflanzten, Felsbrocken Hügel hinaufzurollen. Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, wie sie es taten, denn es kommt nur auf das Ergebnis an. Und das Ergebnis ist, daß Sisyphus über nichts glücklicher ist als darüber, daß er Felsbrocken den Hügel hinaufbefördern darf. Damit nicht genug, wenn es ihm verboten wird, fühlt er sich eindeutig frustriert oder gar deprimiert. Und so würde die Barmherzigkeit der Götter darin zum Ausdruck kommen, daß sie Sisyphus motivieren, genau die Strafe, die sie über ihn verhängt haben, anzustreben und aus vollem Herzen zu begrüßen. Es ist sein einziger wirklicher Wunsch im Leben, Felsbrocken Hänge hinaufzurollen, und ihm wird die ewige Erfüllung garan-tiert. Diese Barmherzigkeit der Götter wäre unzweifelhaft verdreht, doch es wäre trotzdem Barmherzigkeit.
Mehr noch, sie wäre sogar so perfekt, daß Sisyphus’ Aufgabe vielleicht in keinem realen Sinne mehr als Strafe betrachtet werden könnte. Sie scheint eher eine Belohnung zu sein, denn wenn Glück bedeutet, sich wohlzufühlen und zu meinen, daß das Leben und all seine Details wunderbar sind, dann ist Sisyphus’ neue Lebenssituation optimal. Niemand könnte glücklicher sein als er, denn ihm wird die ewige Erfüllung seiner tiefsten Sehnsucht garantiert. Wenn Glück das Wichtigste im Leben ist, dürfte es wohl unmöglich sein, sich ein besseres Leben als das des Sisyphus vorzustellen.
Allerdings habe ich den Eindruck, daß der Schrecken von Sisyphus’ Strafe durch die Barmherzigkeit der Götter um kein Jota verringert wird. Manchmal können die Belohnungen der Götter schlimmer sein als ihre Vergeltungen. Ich glaube, wir sollten nun noch mehr Mitleid mit Sisyphus haben als zuvor. Denn vor der »Barmherzigkeit« der Götter besaß Sisyphus wenigstens eine gewisse Würde. Mächtige, doch boshafte Geschöpfe hatten ihm sein Schicksal auferlegt. Er begriff die Sinnlosigkeit seiner Arbeit und verrichtete sie aus der Not heraus. Es gab nichts anderes, was er tun konnte – nicht einmal sterben. Aber er durchschaute die Sinnlosigkeit seiner Aufgabe und verachtete die Götter, die sie ihm auferlegt hatten.
Diese Würde geht verloren, sobald sich die Götter barmherzig zeigen. Nun muss sich unsere Verachtung – vielleicht gemischt mit Mitgefühl, doch gleichwohl Verachtung – ebenso gegen Sisyphus wie gegen die Götter richten, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist: Sisyphus der Tölpel, Sisyphus der Irregeführte, Sisyphus der Idiot. Vielleicht erinnert er sich auf seinem langen Trott den Hügel hinunter manchmal verschwommen an die Zeit vor der Barmherzigkeit der Götter. Vielleicht meldet sich eine kleine, leise Stimme aus den abgelegenen Bereichen seiner Seele. Und vielleicht begreift Sisyphus dann ganz kurz, durch Echos und Geflüster, was ihm widerfahren ist: Er ist herabgewürdigt worden. Sisyphus weiß, daß er etwas Wichtiges verloren hat – wichtiger als das Glück, dessen er sich nun erfreut. Durch die Barmherzigkeit der Götter wird er der Möglichkeit beraubt, daß sein Leben – oder, besser gesagt, sein Leben nach dem Tode – mehr als ein schlechter Witz ist. Ebendiese Möglichkeit ist wichtiger als sein Glück.
Ich bezweifle, daß wir zum Glück befähigte Tiere sind, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir uns Glück vors teilen. Die Berechnung – in Form unserer äffischen Intrigen und Betrügereien – ist zu weit in unsere Seele vorgedrungen, als daß wir glücklich sein könnten. Wir jagen den Gefühlen nach, die den Erfolg unserer Machenschaften und Unwahrheiten begleiten, und wir meiden die Gefühle, die unser Scheitern begleiten. Sobald wir ein Ziel erreicht haben, halten wir Ausschau nach dem nächsten. Wir sind dauernd auf der Suche nach etwas Besserem, wodurch uns das Glück entgleitet. Gefühle – und Glück stufen wir als eines von ihnen ein – sind Produkte des Augenblicks. Doch für uns gibt es keinen Augenblick, jeder Moment wird endlos verlagert. Daher kann es für uns kein Glück geben.
Immerhin können wir nun unsere Fixierung auf Gefühle begreifen. Sie ist ein Symptom von etwas viel tiefer Gehendem. Unser Streben, uns auf eine bestimmte Art zu fühlen – die verbreitete Annahme, daß dies das Wichtigste im Leben sei –, läuft auf den Versuch hinaus, etwas zurückzugewinnen, das uns durch unsere Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Zukunft genommen worden ist: den Augenblick. Das ist für uns jedoch keine reale Möglichkeit mehr.
Aber selbst wenn wir glücklich sein könnten – selbst wenn wir Geschöpfe wären, für die Glück eine reale Möglichkeit ist, stünde etwas anderes im Mittelpunkt.
Der wirkliche Schrecken von Sisyphus’ Strafe besteht natürlich weder in ihrer Schwierigkeit noch darin, daß er durch sie in das tiefste Unglück getrieben wird. Der Schrecken liegt in der schieren Sinnlosigkeit seines Tuns. Es geht nicht einfach darum, daß Sisyphus mit der Vollendung seiner Aufgabe scheitert. Wir können uns einer sinnvollen Aufgabe gegenübersehen, die uns überfordert. Dann scheitern unsere Bemühungen. Das mag traurig und bedauerlich sein, nicht jedoch schrecklich. Der Schrecken von Sisyphus’ Aufgabe, ob sie leicht oder schwierig ist, ob er sie liebt oder verabscheut, besteht nicht im Scheitern, sondern darin, daß es nichts gibt, was als Erfolg zählen würde. Gleichgültig, ob er den Felsblock zur Spitze befördert oder nicht, er rollt trotzdem wieder in die Tiefe, und Sisyphus muß von neuem beginnen. Seine Arbeit ist sinnlos. Sie zielt auf nichts ab. Seine Aufgabe ist so unfruchtbar wie der Stein.
Das könnte uns zu der Meinung verleiten, daß alles in Ordnung wäre, wenn wir nur einen Zweck für Sisyphus’ Aufgabe finden könnten. Dann wäre das Wichtigste im Leben – ob im Leben des Sisyphus oder aller anderen – nicht das Glück, sondern der Zweck. Aber wiederum glaube ich nicht, daß die Folgerung zutrifft. Und warum nicht, erfahren wir, wenn wir annehmen, daß Sisyphus’ Arbeit einen Zweck hätte – ein Ziel, das er durch seine Bemühungen anstrebt. Statt daß der Felsblock wieder den Hügel hinunterrollt, bleibt er nun an der Spitze liegen. Damit trottet Sisy-
phus nicht mehr den Hang hinunter, um denselben Stein, sondern um andere heraufzuholen. Der Befehl der Götter lautet nun, einen gewaltigen und schönen Tempel zu bauen, und zwar als angemessenen Tribut an ihre Macht und Herrlichkeit. Nehmen wir außerdem an, daß sie als barmherzige Götter Sisyphus mit dem leidenschaftlichen Verlangen ausgestattet haben, genau das zu tun. Stellen wir uns vor, daß er seine Aufgabe nach vielen Jahren grimmiger, fürchterlicher Schufterei erfüllt. Der Tempel ist fertig. Sisyphus kann auf dem Berg ausruhen und die Früchte seiner Arbeit befriedigt betrachten. Es gibt nur eine Frage: Was nun?
Das ist der Haken. Wenn wir uns das, was im Leben am wichtigsten ist, als Ziel oder Zweck vorstellen, dann hat es, sobald der Zweck erreicht ist, keinen Sinn mehr. Genau wie Sisyphus Existenz in der ursprünglichen Version des Mythos keinen Sinn hat, weil ihr ein Zweck fehlt, so verliert seine Existenz auch in unserer Darstellung jeglichen Sinn, wenn der Zweck erfüllt ist. Sein Leben auf dem hohen Hügel, bei dem er unaufhörlich auf ein Ziel starrt, das er weder ändern noch ergänzen kann, ist so sinnlos wie sein Leben, bei dem er einen riesigen, sperrigen Felsblock einen Hang hinaufrollt, nur um den Stein wieder hinunterpurzeln zu sehen, sobald er den Gipfel erreicht.
Wir stellen uns die Zeit als eine Linie vor, die sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt, wobei das Leben jedes Einzelnen von uns einen sich mit anderen überschneidenden Abschnitt der Linie bildet. Vielleicht nehmen wir deshalb so selbstverständlich an, das Wichtigste in unserer Existenz sei ein Ziel, auf das unser Leben ausgerichtet ist – etwas, zu dem wir fortschreiten. Das Wichtigste im Leben sei etwas, auf das wir hinarbeiten müssen und das von unseren Zielen und Projekten abhängt. Und wenn wir fleißig genug arbeiteten und begabt genug seien und vielleicht auch genug Glück hätten, könnten wir diesen Punkt erreichen. Natürlich bleibt unklar, wann genau es so weit ist. Manche glauben, das Wichtigste im Leben könne bereits in diesem Leben erreicht werden; viele dagegen meinen, es sei erst im nächsten Leben zu erlangen und in diesem komme es schlicht darauf an, uns auf das nächste vorzubereiten. Doch sogar eine oberflächliche Betrachtung des Falles von Sisyphus sollte uns zu der Überzeugung bringen, daß der Sinn des Lebens etwas anderes sein muß. Was immer der Sinn des Lebens ist, er kann nicht darin bestehen, daß wir zu irgendeinem Ziel oder Endpunkt fortschreiten – sei es nun in diesem Leben oder im nächsten.
Der Mythos des Sisyphus ist bekanntermaßen eine Allegorie für das menschliche Leben (und wurde von dem französischen existenzialistischen Philosophen Albert Camus zu diesem Zweck herangezogen). Die Allegorie ist nicht subtil. Das Leben jedes Einzelnen von uns gleicht einer von Sisyphus’ Reisen zum Gipfel, und jeder Tag in unserem Leben gleicht einem von Sisyphus’ Schritten auf dieser Reise. Der einzige Unterschied ist folgender: Sisyphus kehrt selbst zurück, um den Felsblock erneut den Hang hinaufzurollen, während wir dies unseren Kindern überlassen.
Wer heute zur Arbeit oder zur Schule oder sonst wohin geht, sehe sich das Menschengewimmel an. Was tun sie alle? Wohin sind sie unterwegs? Man konzentriere sich auf einen von ihnen. Vielleicht ist er auf dem Weg zu einem Büro, wo er heute die gleichen Dinge tun wird wie gestern und morgen die gleichen Dinge wie heute. Im Innern mag er vor Energie und Entschlossenheit vibrieren. Der Bericht muß vor 15 Uhr auf dem Schreibtisch von Frau X liegen – das ist äußerst wichtig –, und er darf das Treffen mit Herrn Y um 15.30 Uhr nicht versäumen, und wenn die Sache schiefgeht, werden die Konsequenzen für den Absatz auf dem nordamerikanischen Markt grauenvoll sein. Für ihn hat all das eine große Bedeutung. Vielleicht macht es ihm Spaß, vielleicht auch nicht. Er erledigt seine Arbeit trotzdem, weil er ein Haus und eine Familie hat und seine Kinder aufziehen muß. Warum? Damit sie in ein paar Jahren die gleichen Dinge wie er aus den weitgehend gleichen Gründen tun und eigene Kinder zeugen können, die ihrerseits die gleichen Dinge aus den weitgehend gleichen Gründen tun. Dann werden sie diejenigen sein, die sich Sorgen um Berichte und Treffen und den Absatz auf dem nordamerikanischen Markt machen.
Dies ist das existenzielle Dilemma, das uns durch Sisyphus enthüllt wird. Wie der Mann, der sich mit Frau X und Herr Y treffen muß und sich Sorgen um den nordamerikanischen Markt macht, können wir unser Leben mit kleinen Zielen oder winzigen Zwecken füllen. Doch sie können unserem Leben keinen Sinn verleihen, weil diese Ziele nur auf ihre eigene Wiederholung gerichtet sind – entweder durch uns oder durch unsere Kinder. Aber wenn wir einen Zweck finden sollten, der herrlich genug wäre, unserem Leben einen Sinn zu verleihen – und ich-habe nicht die geringste Ahnung, wie ein solcher Zweck aussehen würde –, dann müßten wir um jeden Preis dafür sorgen, daß wir den Zweck nicht erfüllen. Denn sobald wir es täten, würde unserem Leben wieder der Sinn fehlen.
Natürlich wäre es schön, wenn wir die Erfüllung unseres herrlichen, sinngebenden Zwecks mit unserem letzten Atemzug zusammenfallen lassen könnten. Aber welches Ziel läßt sich erreichen, wenn wir uns in unserem schwächsten Zustand befinden? Und falls wir es in unserem schwächsten Zustand erreichen können, wieso haben wir es dann nicht schon früher geschafft? Sollen wir uns den Sinn des Lebens als Fisch vorstellen, den wir schon lange am Haken haben und erst aus dem Wasser ziehen, wenn unser Tod bevorsteht? Was für ein Sinn wäre das? Und was für ein Fisch kann es schon sein, wenn wir fähig sind, ihn aus dem Wasser zu ziehen, während unsere Kräfte nachlassen?
Wenn wir annehmen, daß der Sinn des Lebens in einem Zweck besteht, dann müssen wir hoffen, den Zweck nie zu erfüllen. Wenn der Sinn des Lebens in einem Zweck besteht, ist unser Scheitern, ihn zu erfüllen, eine notwendige Voraussetzung dafür, daß unser Leben weiterhin einen Sinn hat. Meiner Ansicht nach verwandelt sich der Sinn des Lebens dadurch in eine Hoffnung, die nie verwirklicht werden kann. Doch worin besteht der Nutzen einer solchen Hoffnung? Eine aussichtslose Hoffnung kann dem Leben keinen Sinn verleihen. Sisyphus hegte unzweifelhaft die aussichtslose Hoffnung, daß der Felsblock irgendwann zum ersten Mal auf dem Gipfel des Hügels bleiben würde. Aber diese Hoffnung gab seinem Leben keinen Sinn. Der Sinn des Lebens ist, wie wir folgern sollten, nicht in einem Fortschreiten zu einem Endpunkt oder Ziel zu finden. Das Ende enthält keinen Sinn.
Wenn der Sinn des Lebens weder das Glück noch ein Zweck ist, was ist er dann? Was für ein Ding könnte er überhaupt sein? Wittgenstein sprach in Verbindung mit philosophischen Problemen gern von der entscheidenden Bewegung in einem »Kunststück«. Ein scheinbar unlösbares philosophisches Problem, so Wittgenstein, stützt sich immer auf die eine oder andere Annahme, die wir unbewußt – und letztlich unzulässigerweise – in die Debatte eingeschmuggelt haben. Diese Annahme zwingt uns eine bestimmte Denkrichtung hinsichtlich des Problems auf. Und die Sackgasse, in die wir irgendwann unvermeidlich geraten, ist kein Ergebnis des Problems selbst, sondern der Annahme, die uns veranlaßt hat, eine gewisse Denkrichtung bei der Beschäftigung mit dem Problem zu wählen.
Was den Sinn des Lebens angeht, so habe ich einen Vorschlag für die entscheidende Bewegung bei dem Kunstgriff. Wir gehen davon aus, das Wichtigste im Leben sei, etwas zu besitzen. Wenn unser Leben eine Linie ist, die aus den Bahnen der Pfeile unserer Sehnsüchte besteht, dann können wir alles besitzen, was diese Pfeile überfliegen. Im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts versprach man Siedlern manchmal so viel Land, wie sie in einem Tagesritt hinter sich bringen konnten. Das wurde als Landnahme bezeichnet. Wir glauben, daß wir im Prinzip besitzen können, was die Pfeile unserer Sehnsüchte, Ziele und Projekte zu überfliegen vermögen. Das Wichtigste im Leben – der Sinn unseres Lebens – könne durch Begabung, Fleiß und vielleicht Glück errungen werden. Dabei mag es sich um Zufriedenheit oder um einen Zweck handeln. Beides kann man haben. Aber wie ich durch Brenin (der Wolf) erfuhr, sieht es beim Sinn des Lebens anders aus. Das Wichtigste im Leben – der Sinn des Lebens, wenn Sie so wollen – ist ausgerechnet in dem zu finden, was wir nicht haben können.
Die Auffassung, daß der Sinn des Lebens etwas ist, das wir besitzen können, dürfte ein Vermächtnis unserer habgierigen äffischen Seele sein. Für einen Affen ist das Haben sehr wichtig. Ein Affe schätzt sich selbst nach dem ein, was er hat. Für einen Wolf jedoch ist nicht das Haben, sondern das Sein entscheidend. Das Wichtigste im Leben ist für ihn nicht, ein bestimmtes Ding oder eine Quantität zu besitzen. Das Wichtigste ist, eine gewisse Art Wolf zu sein. Aber selbst wenn wir das akzeptieren, wird unsere äffische Seele bald versuchen, den Primat des Besitzes erneut geltend zu
machen. Eine gewisse Art Affe zu sein ist etwas, das wir anstreben können. Eine gewisse Art Affe zu sein ist schlicht ein weiteres Ziel, auf das sich hinarbeiten läßt. Der Affe, der wir am liebsten sein wollen, ist etwas, zu dem wir fortschreiten können. Es ist etwas, das erreicht werden kann, wenn wir hinreichend klug, fleißig und vom Glück begünstigt sind.
Die bedeutendste und schwierigste Lektion im Leben ist die, daß die Dinge nicht so sind. Das Wichtigste im Leben ist nicht etwas, das wir je besitzen können. Der Sinn des Lebens ist genau in etwas zu finden, das zeitliche Geschöpfe nicht besitzen können: in Momenten. Deshalb fällt es uns so schwer, einen plausiblen Sinn unseres Lebens zu identifizieren. Momente sind das Einzige, was wir Affen nicht zu besitzen vermögen. Unser Besitz von Dingen beruht auf der Auslöschung des Moments – Momente sind etwas, durch das wir hindurchgreifen, um die Gegenstände unserer Sehnsüchte zu besitzen. Wir möchten die Dinge besitzen, die wir hoch einstufen, möchten einen Anspruch auf sie anmelden, denn unser Leben ist eine einzige große Landnahme. Und aus diesem Grund sind wir Geschöpfe der Zeit, nicht des Moments – des Moments, der uns immer durch unsere gierigen Finger und zugreifenden Daumen gleitet.
Wenn ich erkläre, daß der Sinn des Lebens im Augenblick zu finden sei, wiederhole ich nicht jene oberflächlichen kleinen Predigten, in denen wir ersucht werden, »für den Augenblick zu leben«. Ich würde nie empfehlen, etwas Unmögliches zu versuchen. Vielmehr will ich darauf hinaus, dass es einige Momente – es gilt keineswegs für alle – gibt, in deren Schatten wir herausfinden können, was das Wichtigste in unserem Leben ist. Dies sind unsere höchsten Momente.