
Gerd Schultze-Rhonhof, Generalmajor a. D. der deutschen Bundeswehr
„Putins Krieg“
Man darf diese Floskel nicht als Zuweisung einer Alleinschuld am UkraineKrieg betrachten. Die Schuldfrage ist ein ganz anderes Thema. Nach der Anerkennung der Selbständigkeit der zwei „Volksrepubliken“ auf bisher ukrainischem Territorium und der Ablehnung derselben durch die Ukraine, die NATO, die EU-Staaten und insbesondere die USA blieben Putin drei Möglichkeiten.
- Die erste Möglichkeit wäre Nichtstun und Abwarten gewesen. Damit hätte er kein Problem gelöst. Er hätte den Sezessionskrieg nur verlängert und sein Schutzversprechen an die russische Bevölkerung im Donbass-Gebiet nicht eingelöst.
- Die zweite Möglichkeit wäre eine russische Besetzung der zwei abtrünnigen Oblaste gewesen. Damit hätte er zwar nur ein Buschfeuer am Rand der Ukraine gelöscht, aber damit den Waldbrand in der ganzen Ukraine verursacht. Eine Kriegseröffnung nur gegen einen Teil der Ukraine wäre außerdem sofort als Kriegseröffnung gegen den Gesamtstaat Ukraine ausgelegt worden und hätte absehbar einen späteren Krieg gegen eine „Koalition der Willigen“ nach sich gezogen. Daß ihm die Zusicherung Bidens, Amerika werde nicht in einen Ukraine-Krieg eingreifen, dabei ohne Wert war, darf man Putin nach etlichen vorherigen amerikanischen Wortbrüchen nicht verdenken. Ein ungewisser Ausgang eines Krieges gegen eine US-geführte „Koalition der Willigen“ hätte auch die Gefahr einer anschließenden NATO-Aufnahme der Ukraine nicht beendet.
- Die dritte Möglichkeit war, was er getan hat. Mit einem Angriff gegen die Ukraine und einer kurzzeitigen Besetzung Kiews dauerhaft dafür zu sorgen, dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied wird und auch in Zukunft keine Amerikaner direkt an Russlands Grenze stationiert werden.
- Eine vierte Möglichkeit war vorher schon vertan. Putin hatte 22 Jahre lang vergeblich in Vorträgen, Verhandlungen, Forderungen, Nennung einer „Roten Linie“ und zuletzt kurz vor und nach dem Jahreswechsel 2021-2022 in zwei Telefongesprächen mit US-Präsident Biden versucht, amerikanische Streitkräfte direkt an Rußlands Grenze zu verhindern.
Ein Stellvertreterkrieg
Im Ukraine-Krieg handelt es sich im Kern um eine Auseinandersetzung zwischen den USA und Rußland. Mit etwas weiterem Blickwinkel betrachtet, geht es dabei um die Weichenstellung zu einer bipolaren „Friedensordnung“ in Europa mit einem Rußland auf gleicher Augenhöhe mit den USA oder zu einer monopolaren Ordnung mit Amerika im Sattel und Rußland als Pferdeknecht daneben.
Der US-Präsident hatte ja schon unverblümt geäußert, daß er Rußland nur noch für eine Regionalmacht hält und Putin damit für den Streit in der Ukraine „vorgeglüht“. Obama hat so den Anspruch der USA gegenüber allen anderen Staaten in Europa ausgedrückt. Rein äußerlich spielt sich dieser Streit um Vorherrschaft in Europa jetzt in der Ukraine ab. Das zeigt sich im Streben der USA, ihre Einflußzone und Militärmacht mit Hilfe der NATO ein weiteres Stück in Richtung Rußland vorzuschieben und es wird überdies im raschen wirtschaftlichen Zugriff auf die Bodenschätze der Ukraine sichtbar.
Es waren die USA, die obwohl regional am weitesten von Europa entfernt, als Erste den Anschluß der Ukraine – und Georgiens – an die NATO forderten, Militärberater in die Ukraine entsandten, Waffen dorthin lieferten und zusammen mit den Niederländern sobald wie möglich nach den dortigen Erdöl- und Erdgas-Lagerstätten griffen.
Die Ukraine ist in diesem Konkurrenzkampf um politischen Einfluß, wirtschaftliche Ausbeute und militärische Positionierung hier nur der Spielball zwischen den zwei großen Konkurrenten. Die Konkurrenz der beiden großen Mächte zeigt sich auch in der Unnachgiebigkeit beider Parteien, wenn es um die zukünftige Rolle der Ukraine geht.
Die USA und die NATO-Länder begreifen sich nicht als Bedrohung Rußlands, aber sie sind objektiv betrachtet dennoch eine Bedrohung für jeden autoritär geführten Staat oder Staat mit inneren Problemen. So haben die Amerikaner und in ihrem Gefolge Briten, Franzosen. Italiener und andere in den vergangenen Jahrzehnten „Regime Change Wars“ mit und ohne UN-Mandat gegen Grenada, Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien geführt und sich in die Bürgerkriege und Unruhen fremder Staaten eingemischt, ohne selbst bedroht gewesen zu sein.
Der ehemalige amerikanische General und ehemalige Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa ( SACEUR ) Wesley Clark hat am 9.3.2007 in einem Interview offenbart, daß er bereits im September 2001 im Pentagon erfahren hat, daß dort entschieden worden ist, daß in den nächsten 5 Jahren in 7 Staaten Systemwechselkriege geführt werden sollten. Er nannte dazu den Irak, Syrien, Libyen, den Libanon, Iran, Somalia und den Sudan. Wie wir heute wissen, ist diese Liste beinahe komplett abgearbeitet. Man kann das als einen „Master Plan“ bezeichnen.
Es ist jedenfalls die Manifestierung der amerikanischen Absicht, den eigenen Herrschaftsanspruch durch Kriege zu erweitern. Alle diese Kriege wurden durch innere Unruhen vorbereitet, die sich in allen genannten Staaten über die dortigen ethnischen oder religiösen oder sozialen Differenzen und Oppositionsgruppen ohne weiteres schnell von außen her entfachen ließen.
Alle diese Kriege, die Demokratie und Menschenrechte exportieren sollten, haben Chaos, Flüchtlingsströme, Tote, ruinierte Familien und zerstörte Städte und Dörfer hinterlassen.
So befürchtet man außerhalb des Kreises der USA-Verbündeten, daß die USA bei günstiger Gelegenheit nach eigenen Interessen und Maßstäben kriegerisch in fremden Staaten und dortige „Regierungswechsel“ eingreifen.
Putin hat diese Machtverschiebungen natürlich registriert. Er hat gesehen, daß die Ukraine nach dem Regierungs-Machtwechsel von 2014 im Begriff war, ganz in die amerikanische wirtschaftliche Einflußzone zu geraten und daß Rußland bei weiterer Entwicklung auch amerikanische Truppen, Mittelstreckenraketen und Flottenstützpunkte an seiner Haustürschwelle haben würde.
So ist der jetzige Ukraine-Krieg eine russisch-amerikanische Auseinandersetzung, auch wenn die USA noch nicht am Waffen-Krieg beteiligt sind. Die EU ist dabei – offensichtlich ohne vordergründige Absicht – der Gleisarbeiter, der die Strecke baut, über die der Zug der NATO anschließend nach Osten fährt, mit den USA vorn auf der Lokomotive.
Die Brutalität von Kriegen
Militärisch ausgetragene Kriege sind immer brutal. Mit der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen hat man versucht, die Kriegsgräuel einzudämmen. Zu den Schutzgeboten beider Regelwerke gehören der Schutz der unbewaffneten Zivilbevölkerung und der Schutz unverteidigter Städte und Dörfer vor Beschießung und Bombardierung.
Selbst Zivilisten, die sich bewaffnen und einem Angreifer entgegenstellen, solange das eigene Militär noch nicht aufmarschiert ist, genießen die Schutzrechte, die sonst nur Soldaten zukommen. Das war in diesem Ukraine-Krieg nach 8 Jahren Krieg im Donbass jedoch nicht mehr der Fall.
Wer als Staatsoberhaupt seine zivile Bevölkerung dazu aufruft, MolotowCocktails herzustellen und sich Gewehre zu besorgen, nimmt billigend in Kauf, daß die Schutzregeln für die Bevölkerung nicht mehr gelten.
Wer seinem Militär befiehlt, die Städte zu befestigen und zu verteidigen, nimmt wohl kalkuliert in Kauf, daß um die Städte gekämpft wird und daß sie beschossen und bombardiert werden.
Wer mit offensichtlichem Stolz vor Fernsehkameras zeigt, wie junge Freiwillige in einem Schulgebäude militärisch ausgebildet werden, darf nicht medienwirksam im Fernsehen über die Brutalität des Gegners klagen, wenn der auf solche Gebäude schießen läßt.
Die Alternative ist es, Städte zur „offenen Stadt“ zu erklären und sie von Bomben und Granaten zu verschonen und den Krieg in „Feldschlachten“ auszutragen.
Wer einen Krieg vor seiner Niederlage beendet haben will, muß noch verhandeln können. Und Verhandlungen kann man nur ohne Vorbedingungen eröffnen. Je länger sich ein Krieg hinzieht, desto härter werden nach der Erfahrung die Bedingungen, welche die bis dahin überlegene Kriegspartei stellt.
Ist Putin ein Kriegsverbrecher?
Herr Putin hat derzeit den Zorn und Spott der Welt auf sich gezogen. Politiker und Journalisten überbieten sich mit Beschimpfungen, die alle Schuldzuweisungen enthalten oder seine Zurechnungsfähigkeit bezweifeln. Putin ist weder gewissenlos noch größenwahnsinnig und weder irrsinnig noch leidet er an einer Großmacht-Obsession. Selbst Herr Gysi hat ihm einen verbrecherischen Angriffskrieg vorgeworfen, was ihn auch zum „Verbrecher“ macht.
Staatspräsident Putin könnte man gerechter Weise nur als Verbrecher bezeichnen, wenn die vielen westlichen Spitzenpolitiker auch als Verbrecher und Massenmörder bezeichnet würden, die in den vergangenen 30 Jahren vermeidbare Kriege eröffnet haben. Der Unterschied zwischen jenen und Putin liegt in der Wahrnehmung, die uns seinerzeit durch Politikerreden und Medienberichte vermittelt worden ist.
Es waren Polizeiaktionen oder humanitäre Einsätze. Es hieß, es ginge um den Sturz von Unrechtsregimen, um die Rettung von Regionen vor dortigen Massenvernichtungswaffen, um den Schutz von Minderheiten, um die Wahrung von Menschenrechten oder um das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die schillernden Etiketten „Für Demokratie und Menschenrechte“ haben uns dabei oft zusätzlich die Sicht verstellt.
Putin wird nun das ganze Elend angelastet, das er mit der Kriegseröffnung ausgelöst hat. Dabei werden seine 22 Jahre andauernden vergeblichen Bemühungen verschwiegen, erst um Annäherung an den Westen, dann seine Bitten, dann seine Forderungen, die Nato-Osterweiterung nicht auf die Spitze zu treiben, dann seine „Roten Linien“.
Doch das „Narrativ“ der Politiker und der Medien beginnt erst mit der Krim und mit dem Drohaufmarsch. Da die EU, die NATO und die USA Putin offensichtlich vorher nicht ernstgenommen und das russische Sicherheitsbedürfnis schlicht in Abrede gestellt haben, und da Selenskyj, die NATO-Führung und die Amerikaner zum Schluß zu hoch gepokert haben, blieb Putin nur die Wahl zwischen russischer Selbstbehauptung oder Unterwerfung unter den Hegemonialanspruch der Amerikaner.
Es war in Wirklichkeit die Wahl zwischen Unterwerfung oder Krieg, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Er hat die Wahl dann unglücklich getroffen.
Im Übrigen bleibt festzuhalten, daß zu den Verursachern des Ukraine-Krieges auch die gehören, die das „Nicht-NATO-Osterweiterungs-Versprechen“ nicht gehalten haben und die das Selbstbestimmungsrecht der Völker für die Volksgruppen der Auslandsrussen auf der Krim und im Osten der Ukraine nicht beachtet haben. Dazu gehören auch die ukrainische Regierung, die den mit Minsk II vereinbarten Sonderstatus für Donezk und Lugansk verweigert hat, und alle, die zum Schluß hoch gepokert und abgewartet haben, wie Putin in seiner Klemme reagieren wird.
Quelle: https://helmutmueller.wordpress.com/
Beitragsbild: https://zn.ua/POLITICS/borrel-konflikt-na-hranitse-ukrainy-usuhubljaetsja-pod-uhrozoj-bezopasnost-vsej-evropy.html
Es ist zu wünschen, daß der Bundeskanzler die klaren Analysen des Generals zur Kenntnis nimmt. Und sich nicht noch am Ende von einer besinnungslosen Meute zu Waffenlieferungen drängen läßt, die eine Rückkehr zu halbwegs „normalen“ Verhältnissen auf ewig unmöglich machen.