Heinrich Wolf

Auszug aus dem Buch:

Wie weiter?

Kritik und Doktrin des organisierten Nationalismus

Die Masse ist immer irrational, nicht rational. Nur die Minderheit läßt sich rational überzeugen, wird Argumente abwägen und schließlich ein fundiertes Urteil bilden. Die Masse läßt sich nur von Bildern und transportierten Emotionen überzeugen und begeistern. Nicht erst seit dem Philosophen George Sorel ist daher die Bedeutung von Mythen für die Politik bekannt. Wohlgemerkt: Mythos steht hier nicht für ein Märchen oder eine Legende, sondern für eine große, in sich stimmige Erklärung, die auf die Zukunft gerichtet sein kann und einen Wahrheitsanspruch für sich selbst hat. Zu wahren Opfern, zur Ekstase und brennender Leidenschaft bringen immer nur aufwallende Emotionen, erhebende Mythen, große Bilder – keine Rationalität. Kein Soldat geht für die rationale Berechnung, welche Vorteile ihm ein Sieg bringen würde, ins Feuer. Nur der Mythos treibt ihn durch die Stahlgewitter des Krieges. Der Mythos stellt dabei eine ins Sakrale gehende Wahrheit für die Gemeinschaft meiner Anhänger dar, der wiederum wertlos für diejenigen sein kann, die nicht Anhänger des Mythos sind. Es handelt sich also um keine universale, sondern um eine partikulare Erzählung.

Dieser Mythos kann alles sein – Religion, Ehre, politischer Glaube, das Vaterland oder die Weltrevolution genauso wie ›die‹ Freiheit. So bezog Sorel die Stärke der organisierten Arbeiterbewegungen Anfang des letzten Jahrhunderts auf ihre Hervorbringung sozialer Mythen. Der irrationale Glaube an eine Weltrevolution, die Verheißung des sozialen Paradieses, die Erwartung des ›letzten Gefechts‹, das die Menschenrechte erkämpfe (wie es in der ›Internationalen‹ heißt), trieb Massen an Arbeitern, die niemals Marx’ Kapital gelesen hatten und es auch größtenteils nicht verstanden hätten, in die kommunistischen Kampforganisationen. Diese Mythen brachten Angehörige der verarmten Massen dazu, ihr letztes Geld der kommunistischen Partei zu geben, in ihren Kampforganisationen zu töten und zu sterben oder auch ›nur‹ zahlreiche gesellschaftliche Nachteile auf sich zu nehmen.

Der Kommunismus war dabei nicht die einzige Bewegung, die Mythen hervorbrachte. So war in den vergangenen Jahren der ausstrahlende Mythos eines ›Islamischen Staates‹ zu beobachten, der zusammen mit der Irrationalität des religiösen Fanatismus trotz unzähliger selbst wohldokumentierter Grausamkeiten Zehntausende anzog. Genauso waren es das Narrativ vom ›strukturellen Rassismus‹ und die Figur des ›Unschuldigen‹ und von ›weißen rassistischen Polizeibeamten‹ getöteten Georg Floyd, die die ›Black lives matter‹-Proteste in den USA mythisch mobilisierten. Daß die eingesetzten Polizeibeamten zum Teil nicht einmal weißer Hautfarbe waren oder interrassisehe Beziehungen führten und Georg Floyd nicht durch die Polizei, sondern durch Drogenkonsum starb und keineswegs ein Unschuldslamm war, interessierte später nicht mehr, denn Fakten sind nicht annähernd so wirkmächtig wie das Bild eines (vermeintlichen) Märtyrers. Es ist jedoch der typische Fehler der gesamten ›Rechten‹ in den letzten Jahrzehnten gewesen, mit Fakten und Argumenten überzeugen zu wollen, während die ›Linke‹ erfolgreich Emotionen, Mythen und Narrative setzt. Kein noch so stichhaltiger Fakt bringt eine Revolution hervor, während sogar die offene, aber als Mythos wirkende Lüge eine solche auslösen kann.

Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich für die letzten Jahre finden, wobei allein ein Blick auf die Propaganda der Medien und Regierungen rund um die Asylflut 2015 dieses Vorgehen offenbart. Mit Bildern weinender Kinder wurde die Einwandcrung von Millionen von jungen, wehrfähigen Männern gerecht fertigt, mit Erzählungen über echte und vermeintliche Gräuel des unzweifelhaft grausamen syrischen Bürgerkriegs die Migration aus ganz Afrika und dem Nahen Osten begründet. Alle Gegenargumente – von den Kosten über die sozialen Verwerfungen bis hin zur Gesetzwidrigkeit des ganzen Verfahrens – blieben wirkungslos angesichts der Bilder kleiner, ertrunkener Kinder und weinender Mütter, die zur besten Sendezeit über alle Kanäle liefen.

Der gesamte Nationalismus verfügt dagegen über keine in der Masse wirkungsmächtigen Bilder und Mythen mehr. Die Schlagworte eines ›Weißen Europas‹, der Verteidigung des Abendlandes oder der Rückkehr zum Nationalstaat bleiben außerhalb des eigenen Umfelds genauso ohne Widerhall wie die Behandlung der Zerstörung Dresdens. Insgesamt kann man nur auf eine Rückkehr zu vorherigen Zuständen verweisen, die man wiederherstellen will, jedoch auf keine mobilisierende Zukunftsvision. Die ›Rechte‹ hat es verlernt, Visionen zu entwerfen und Utopien zu träumen. Von einer Kopie des Dritten Reiches bzw. der verschiedenen europäischen Faschismen bis hin zu einem Status quo, nur mit ethnischer Homogenität und einigen linken Sozialexperimenten weniger reicht es nur noch zu verschiedenen Graden des ›Zurück‹.

Dabei verfügte auch der Nationalismus einmal über Mythen. Der allgemeine irrationale, da nicht greifbare Begriff der ›Nation‹ und der Traum der Nationalstaatlichkeit beflügelten in Deutschland den Freiheitskrieg gegen Napoleon und die Dichter des damaligen nationalen Widerstandes, von Körner bis Kleist. Auch der Erste Weltkrieg war allseits noch vom Mythos des Vaterlandes geprägt. In der Zwischenkriegszeit brachte es Italien, insbesondere mit dem Faschismus, zu einem neuen Mythos, der unter den Schlagworten der ›Nation‹, des ›Sozialismus‹, des ›kriegerischen Heroismus‹ und der ›Revolution‹ die Massen begeisterte. In Deutschland waren es die Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft, die Vision der Verbindung von Nation und Sozialismus, der Wunsch nach Rache für Versailles und der allgemeine Traum eines ›Dritten Reiches‹, der allein in den Reihen der NSDAP über 300 Menschen den Tod und über 40.000 teils schwere Verletzungen in Kauf nehmen ließ; im gesamten nationalen Lager waren die Zahlen noch größer.

Die Vision eines ›Dritten Reiches‹ (von dem sehr unterschiedliche Vorstellungen bestanden) zog sich nach seinem Aufkommen durch zahlreiche Reden, Bücher und Lieder der nationalistischen Aktivisten der Weimarer Republik. Das Schlagwort des ›Dritten Reiches‹ war als Begrifflichkeit einfach genug, von jedem sofort verstanden zu werden, und ermöglichte dabei gleichzeitig die Projizierung aller individuellen Wünsche und Hoffnungen in jene Verheißung des ›Dritten Reiches‹. Jene Vision war wirkmächtig genug, um Hunderte zu Blutzeugen eben dieses kommenden Dritten Reiches werden zu lassen. Die nationalistische Bewegung nach 1945 wiederum hat keine einzige Vision entworfen, die annähernd eine solche Strahlkraft entwickelt hätte.

Es kam bisweilen dazu, daß sich auf den Straßen Arbeiter für zwei verschiedene Mythen bis zum Tod bekämpften: die einen für den Traum der Weltrevolution, die anderen für den der nationalen Revolution. Es ist dabei bezeichnend, daß die liberalen Kräfte in der Weimarer Republik genauso wie in jedem anderen Land es zu keinem vergleichbaren Gegenstück brachten. Denn der Liberalismus verfügt über keinen Mythos, er appelliert nur an den Egoismus – und die Bereitschaft, für eine Sache zu sterben, bedingt ja ausdrücklich die Überwindung des Egoismus.

Die heutigen nationalistischen Bewegungen in Europa haben es bislang – im übrigen genauso wie die radikale Linke – zu keinem neuen Mythos gebracht. Das Einzige, was bisher in diese Richtung geht, ist die leider wahre sinnstiftende Erzählung des Volkstodes, also das Ende der eigenen ethno-kulturellen Existenz durch die Überfremdung. Diese Negativerzählung (und nicht etwa die rationale Überzeugung von der Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit durch eine nationalistische und antikapitalistische Politik) ist auch der entscheidende Grund für die Mehrheit ihrer Aktivisten, aktiv zu werden. Ein ausschließlich negativer Mythos wird jedoch nur eine Minderheit erreichen, ein positiver neuer Mythos wurde noch nicht geboren, man zehrt weiterhin von den Mythen der Vergangenheit, die allerdings keine breite Ausstrahlungswirkung mehr haben.

Problematisch in diesem Kontext ist, daß vergangene Mythen sich nicht wiederbeleben lassen. Ein Mythos kann nur in seiner Zeit wirken. So wenig wie der Mythos der Monarchie, für den über die Jahrhunderte Unzählige gefallen sind, den heutigen Aktivisten noch bewegen kann, so wenig bewegt den Durchschnittsdeutschen der Mythos der Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Daher ist ein neuer Mythos vonnöten, der die Massen erreichen kann. Es ist aber zu befürchten, daß die Ideen des Vaterlandes und der Nation alleinstehend dies nicht mehr können.

Die Verbindung mit Europa, also eine echte europäische Konzeption des Nationalismus, könnte jedoch das Potenzial haben, einen neuen Mythos des 21. Jahrhunderts zu gründen. Unabhängig davon, wie der kommende revolutionäre Mythos genau aussehen wird, ist es notwendig, einen solchen zu bilden, der jedoch nicht einfach ›am Reißbrett‹ entworfen werden kann, sondern ein Stück weit aus der Praxis des revolutionären Kampfes und der Stimmungslage des Volkes geboren werden muß. So wäre das Narrativ der kommunistischen Weltrevolution ohne die Massenarmut des Industriezeitalters und die teilweise ungezügelte Ausbeutung durch den Kapitalismus, wie wir ihn im sogenannten ›Manchester Kapitalismus‹ aufs Brutalste sehen konnten, kaum möglich gewesen, da die verarmten Massen in den Elendsquartieren der Industriearbeiterschaft empfänglich für eine soziale Heilslehre waren.

Genutzt werden konnte er aber erst durch die kommunistischen Agitatoren, die in den Massenversammlungen die Botschaft des Kommunismus unter jenen verbreiteten, die niemals Marx gelesen hatten und seinen ökonomischen Überlegungen auch nicht hätten folgen können. Ohne die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges als ersten industriellen Kriegs, der zugleich ein Verschwinden der Klassenunterschiede zwischen den Frontkämpfern brachte, und die starke Entfremdung der heimkehrenden Soldaten mit den bürgerlichen Gesellschaften wären die europäischen Faschismen und Nationalsozialismen, teilweise ergänzt um die jeweiligen nationalen Traumata (in Italien etwa die Erzählung des ›verstümmelten Sieges‹, in Deutschland die Knechtung unter dem Diktat von Versailles, in Ungarn das Diktat von Trient), in dieser Form nicht möglich gewesen. Die Mythen lagen gewissermaßen ›in der Luft‹, so die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus oder die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft in einem revolutionären Prozeß, was insbesondere von der Jugend bejaht wurde.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte es die Verbindung von marxistischem Sozialismus und Befreiungsnationalismus in der Dritten Welt zu einem ähnlichen mobilisierenden Mythos und beflügelte zahllose Kämpfer von Südamerika bis Südasien. In Europa konnte hingegen lediglich die Bedrohung durch den Kommunismus (bzw. durch den imperialistischen Westen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs) und der atomaren Vernichtung einerseits die jeweiligen politischen Bewegungen und andererseits die Friedensbewegung zu mobilisieren. Ähnlich wurde die Umweltschutzbewegung durch die reale Umweltzerstörung und den Mythos der Naturvernichtung und des selbstzerstörerischen Verhaltens mobilisiert (man denke an die Wirkung des Berichts ›Das Ende des Wachstum‹ durch den Club of Rome oder den Verkaufsschlager Ein Planet wird geplündert).

Noch heute wirkt die Person des Guerillakämpfers Che Guevara als Mythos weltweit und inbesondere in der Dritten Welt weiter. Mit dem millionenfach auf T-Hemden, Schlüsselanhängern und jedem nur sonst denkbaren Utensil gedruckten Gesicht des ›Jesus Christus mit ‘ner Knarre‹, wie ihn Wolf Biermann in seinem berühmten Che Guevera-Lied charakterisierte, verbinden Millionen den Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit – ohne die geringste Ahnung von dem kubanischen Sozialismus oder von Ansichten und Lebensweg Gueveras auch nur das Geringste zu wissen und daran teilweise als Analphabeten niemals etwas ändern zu können. Doch derjenige, der in einer lateinamerikanischen Favela lebt, braucht nicht Gueveras Werk Ökonomie und das neue Bewußtsein zu lesen, um ihm als Person anzuhängen – denn er hat das Gesicht des Revolutionärs mit dem Barett und der Zigarre als Mythos vor sich.

Nach Ende des Kalten Krieges brachte es in Europa nur die Friedens- und Umweltbewegung zeitweise noch zu Mobilisierungserfolgen, letztere zuletzt vor allem in Form von starken Wahlergebnissen für die grünen Parteien nach dem Reaktorunfall von Fukushima und der Bewegung ›Fridays for Future‹. Dagegen stellen die radikalen Bewegungen sowohl des Internationalismus als auch des Nationalismus weitgehend Randerscheinungen dar, wissen aber teilweise bewußt oder unbewußt noch um die Mobilisierungsfähigkeit von Mythen. Nicht umsonst ist jede Bewegung bemüht, entsprechende Traditionslinien zu bewahren und von den Mythen der Vergangenheit zu profitieren: so in Deutschland die jährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen des kommunistischen Lagers oder auf Seiten des Internationalismus die Antifa-Demonstrationen zum Gedenken an den in einer Auseinandersetzung mit Nationalisten gestorbenen Silvio Meier; auf nationalistischer Seite vor allem mit dem Gedenken an die gefallenen Soldaten der Weltkriege, mit der Erinnerung an die Zerstörung der deutschen Städte im Bombenholocaust sowie sonstigen geschichtlichen Mythen.

Neben der Mobilisierung durch den jeweiligen Mythos ist es auch die Bildung einer eigenen politischen Identität, die den Einzelnen prägen kann. Politische Vorbilder waren und sind ein wichtiger Punkt zur Identitätsbildung und Begeisterung der eigenen Anhängerschaft. Vergleiche lassen sich international zuhauf finden, von der Nutzung antifaschistischer Partisanenlieder (zuletzt vor allem ›Bella Ciao‹ aus dem Zweiten Weltkrieg durch die radikale Linke nicht nur Italiens, mit dem man sich selbst in eine Traditionslinie setzt und entsprechend die Geschichte und Bedeutung der (italienischen) Partisanenbewegung für sich vereinnahmen kann, bis zur Nutzung des griechischen Buchstabens Lambda durch die französischen Identitären, mit dem man sich direkt sichtbar auf die Geschichte der Spartiaten in der Schlacht der Thermophylen bezieht.

Denn wie kaum etwas anderes ist für die emotionale Mobilisierung der Idealist geeignet, der für seine Sache in den Tod geht. Unabhängig von der Sache, für die der jeweilige Idealist stirbt, war der Märtyrertod in der ganzen Menschheitsgeschichte eine Erscheinung, die die Menschen beeindruckt und angespornt hat. Die Rezeption des Lebens und Sterbens des nationalsozialistischen Blutzeugen Horst Wessel hat bis heute, 91 Jahre nach seiner Ermordung, vermutlich mehr Menschen zum radikalen nationalistischen Aktivismus motiviert als die politische Tätigkeit mancher bürgerlich-nationaler Partei. Nicht weiter verwunderlich ist es daher, daß die größten Demonstrationen der skandinavischen nationalistischen Bewegung der letzten Jahrzehnte zum Gedenken an den von Ausländern getöteten Nationalisten Daniel Wretström stattfanden und in Deutschland die Demonstrationen zum Gedenken an Rudolf Hess in Wunsiedel und die Zerstörung Dresdens über Jahrzehnte gleichfalls zu den größten Demonstrationen gehörten. Der Mythos der Toten der eigenen Bewegung bzw. jener, die dazu gerechnet werden, mobilisiert die Aktivisten mehr als die Behandlung eines drängenden sozialen Problems, obwohl eine Gedenkdemonstration des ersteren streng genommen keinen direkten politischen Nutzen hat und letztere für die politische Arbeit entscheidender ist. Der Grund hierfür liegt darin, daß ersteres Thema die Menschen emotional, letzteres sie rational anspricht.

Einen neuen mobilisierenden politischen Mythos, der auf eine Zukunftsvorstellung gerichtet ist und Antworten auf die Fragen der Zeit entwirft, wurde jedoch bislang von keiner Seite entwickelt. Der um sich greifende Populismus ist nur eine schlechte Füllung der Lücke, die offensichtlich besteht. Die liberale Gesellschaft befindet sich zur Zeit im Dämmerschlaf des selbsterklärten ›Endes der Geschichte‹, wie sie der Amerikaner Francis Fukuyama mit dem Sieg des liberal-kapitalistischen Systems nach Ende des Kalten Krieges verkündet hat, und hinterläßt einen täglich größer werdenden Bedarf an einem neuen, sinnstiftenden Mythos. Gerade sein Fehlen ermöglicht das Blühen von in den Wahnsinn gehenden Heilslehren. Die Menschen wollen indes keine rationalen Argumente, wollen keine politischen Prozeße analysieren und wollen auch keine Worte über jahrelangen Aufbau hören, sie wollen glauben. Entsprechend konnten Mythen wie der von ›QAnon‹ zehn-, wenn nicht gar hunderttausende Menschen erreichen und mobilisieren, während die rationalen radikalen politischen Bewegungen kaum Zugewinne erfuhren. In ihrer Orientierungslosigkeit glaubten viele lieber den durch nichts zu belegenden Versprechen einer Wende durch einen geheimen Plan Donald Trumps, als rationale und strukturierte politische Arbeit zu beginnen. Dieser im besten Fall als naiv zu bezeichnende irrationale Glaube hat genug Blüten getrieben, die jeden politisch denkenden Menschen mit dem Kopf schütteln ließen. Entscheidend war aber nicht ihre fundierte Argumentation, sondern die Befriedigung der Sehnsucht nach einem Mythos. Ob der geschulte Aktivist über die durch nichts belegte Behauptung, Donald Trump wäre im Reichstag, um einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, oder ähnliche absurde Geschichten nur lachen kann, ist nicht von Belang, solange es jene Mythen waren, die Menschen die Treppen zum Reichstag oder gar das US-amerikanische Kapitol stürmen ließen. Solange eine auf anonymen Behauptungen beruhende Erzählung ohne jeden Nachweis es schafft, mehr Menschen innerhalb kurzer Zeit zu bewegen und zu fanatisieren als die gesamte radikale ›Linke‹ und ›Rechte‹ zusammen, sollte die Bewegung weniger (wenn auch rational zu Recht) den Kopf darüber schütteln, sondern die hinter solchen Mythen bestehenden Wirkmechanismen analysieren.

Einen solchen Mythos der nationalen bzw. europäischen Revolution zu schaffen, ist eine der dringlichsten Aufgaben der Bewegung. Ihre Eckpunkte können hier nur umrissen werden:

  • Ende der Überfremdung und Remigration der fremdethnischen Ausländer
  • Beseitigung des Kapitalismus durch einen Antikapitalismus auf nationaler Grundlage
  • Ende des Liberalismus und Wiederbelebung von Traditionen, Kultur und Gemeinschaft
  • Ende der Dekadenz und Wiedererrichtung sinnstiftender Institutionen, Rückkehr zu Stolz und Würde
  • Ende der Umweltzerstörung und der Tierquälerei
  • Beendigung der Globalisierung
  • eine echte europäische Einigung auf völkischer und kultureller Grundlage an Stelle des EU-Beamtenapparats.

Dieser Mythos muß so selbsterklärend sein, daß er mit wenigen Worten, ja am besten mit einem einzigen Schlagwort (wie etwa der Faschismus, der Nationalsozialismus oder der Kommunismus einen solchen Mythos im Politischen darstellten) als solcher auch verstanden wird, daß wenige Worte als Parole  alles bereits ausdrücken und die Masse mobilisieren können. Aus diesem Grund braucht nicht nur die Bewegung den Mythos, der Mythos braucht auch die Bewegung. Das beste theoretische Konstrukt, die besten Neologismen und die besten Schlagwörter, am Schreibtisch entworfen, sind völlig wirkungslos, wenn keine Bewegung sie in das Volk hineinträgt. Ein Mythos muß nicht nur geschaffen, sondern auch verkündet werden, damit mit dem jeweiligen Schlagwort nicht nur die Denker eines abgeschlossenen Zirkels, sondern auch die Masse des Volkes das Gewollte verbinden.

Der Mythos muß dabei, um wirksam und interessant zu sein, nicht nur auf Höhe der Zeit sein, sondern auch an sich neu sein, um unvorbelastet mit Vorherigem wirken zu können. Es wird sich, um auch an dieser Stelle selbstkritisch zu sein, zeigen, ob das Schlagwort des ›Deutschen Sozialismus‹, das derzeit von der Partei ›Der III.Weg‹ als organisatorischer Form der national revolutionären Bewegung genutzt wird, eine entsprechende Wirkung entfalten kann oder ob es zu sehr mit dem historischen Nationalsozialismus und den mit ihm assoziierten tatsächlichen und angeblichen Verbrechen bzw. zu sehr mit dem DDR-Regime verknüpft ist, um mobilisierend zu wirken.

Es könnte sich erweisen, daß das Wort ›Sozialismus‹ ein Begriff des 20. Jahrhunderts war, der für das 21. Jahrhundert nicht mehr nutzbar ist. Das heißt, es kann sein, daß ein neuer Begriff geschaffen werden muß, der aber – und das ist das Entscheidende! – den gleichen weltanschaulichen Inhalt, die gleiche Bedeutung wie das Wort ›Sozialismus‹ hat. Genauso kann es möglich sein, daß für den Inhaltsgehalt des Nationalismus ein neuer Begriff geschaffen werden muß, womit sich aber natürlich nichts an der Haltung als Nationalisten zu ändern hat. Ob dies der Fall sein wird und gegebenenfalls wie diese Begriffe künftig aussehen werden, wird die Zukunft zeigen. Es ist möglich, daß künftige Generationen diese Frage einmal zu entscheiden haben – nichtsdestotrotz kann die Vorarbeit bereits jetzt geleistet werden, auf der sie dann aufbauen können.

Neben dem mobilisierenden Mythos als solchem, der in die Masse hineinwirkt, muß die Bewegung dafür Sorge tragen, einen eigenen Mythos um sich zu entwickeln, insbesondere, wenn diverse Gruppierungen und Organisationen für sich in Anspruch nehmen, für das Ziel des Mythos zu kämpfen. Eigene Traditionen, eigene Lieder, mobilisierende Effekte, emotionale Botschaften, eigene Geschichten sind zur Bildung einer Bewegungsidentität und eines eigenen Mythos entscheidend. Aktuell, im Jahr 2021, brachte dies von allen europäischen Bewegungen vermutlich am erfolgreichsten die italienische CasaPound-Bewegung fertig, woraus sich auch ihre Anziehungskraft weit über die Grenzen Italiens ergibt. Mutmaßlich Hunderte europäische Nationalisten besuchen jedes Jahr das besetzte Haus in der Via Napollone, um die Bewegung kennen zu lernen, deren Ausstrahlung als Vorbild für viele europäische Gruppen gilt. Eigene Musikgruppen, eine eigene künstlerische Bewegung, eigene Romane, eigene Symbole und Traditionen haben die Bewegung mit der stilisierten Schildkröte zu einem Anziehungspunkt für vermutlich fast alle europäischen Aktivisten werden lassen. Selbst Personen, die weltanschaulich keine Faschisten sind (als welche sich die Casapound-Aktivisten offen selbst bezeichnen), fühlen sich von der Bewegung angezogen, weil der Konsum der Musik, die Ästhetik des Auftretens und der Mythos rund um die ›Faschisten des 3. Milleniums‹ diese emotional anspricht. Dabei ist die CasaPound keineswegs die einzige nationalistische oder neofaschistische Bewegung Italiens, jedoch überstrahlt ihre Außenwirkung die aller anderen um Längen. In der historischen Vergangenheit finden sich wiederum zahlreiche Parallelen, man denke nur an die jeweiligen Selbstikonisierungen der verschiedenen kommunistischen Bewegungen.

Wiederum läßt sich der Prozeß der Mythisierung der Bewegung nicht einfach planen. Man kann kein Lebensgefühl entwerfen oder beschließen, eine Tradition einzuführen. Solches entsteht nämlich nur aus dem revolutionären Kampf selber; jedoch muß die Bewegung offen für die Mythisierung sein und, wo es Gelegenheiten dazu gibt, bewuß diese Gelegenheiten nutzen. Zu dieser Mythisierung kann auch die eigene Ästhetik beitragen. Tatsächlich ist die Ästhetik eine der wenigen Waffen, die der Nationalismus hat. Dies liegt hauptsächlich daran, daß er sich an Größe, Kraft und Schönheit orientiert, also an dem natürlichen Streben der Menschen, wohingegen seine politischen Gegner aus ideologischen Gründen wenige ›avantgardistische‹ Kunstrichtungen propagieren, die abseits ihrer Filterblase auf keinerlei Resonanz im Volk stoßen. Das Ästhetikempfinden des Volkes ist aus seiner natürlichen Haltung heraus in den Grundzügen immer noch dasselbe wie vor Jahrhunderten. Moden wechseln, bevorzugte Stilrichtungen und weitere Nuancen ebenso, doch die Grundsätze bleiben die gleichen, solange das Volk als solches bestehen bleibt. Noch immer würde eine beliebige Anzahl von Menschen auf der Straße das Werk eines Arno Broker als künstlerisch wertvoller und ästhetisch ansprechender bewerten als die meisten Erzeugnisse der heute staatlich subventionierten ›modernen‹ Künstler.

Jedes Bild transportiert Emotionen, löst im Betrachtenden etwas aus. Jede Fotografie kann begeistern, langweilen oder sogar abstoßen. Es ist daher für eine politische Bewegung notwendig, sich stets bewußt zu sein, daß ihre Propaganda sich in eine entsprechende Wirkung einzupflegen hat. Neben diesem noch relativ offensichtlichen Punkt muß es Ziel einer Bewegung sein, einen eigenen Stil hervorzubringen. ›Stil‹ ist dabei einer der am schwierigsten zu erklärenden Begriffe (und Methoden) der politischen Arbeit. Entweder eine Bewegung hat bzw. entwickelt einen Stil oder nicht, und wer einmal einen ›Fahneneinmarsch‹ auf einem ›rechtspopulistischen‹ Parteitag gesehen hat, wie unförmige Menschen in schlecht sitzenden Anzügen billige PVC-Fahnen bemüht pathetisch schwenken, weiß, was Stil ausmachen kann. Maßgaben dafür sind unter anderem eine Einheitlichkeit des Gesamtauftritts, daß sich also durch Logos, Parolen, Gestaltung und das Auftreten der Mitglieder ein roter Faden zieht, der als solcher dem Außenstehenden erkennbar wird (auch als ›Corporate Identity‹ bekannt). Jedem Logo muß eine gewisse Dynamik entspringen, jede Gestaltung der eigenen Räumlichkeiten nicht nur zweckvoll sein, sondern auch ›propagierend‹ wirkend. Ein stilvolles Wandbild in einem Zentrum kann mehr Menschen von der eigenen Bewegung überzeugen als ein fundiertes Flugblatt. Ein einziges stilvolles nationalistisches Café in einem Stadtteil kann für mehr Wählerstimmen sorgen als einhundert Wahlplakate.

Wie bedeutend ein solcher Stil sein kann, zeigt eine Anekdote des wallonischen Nationalistenführers Leon Degrelle, wonach auch der Stil zum Erfolg seiner Rexisten-Bewegung beigetragen habe. Denn laut Degrelle zählten zu den Rexisten ›neben den schneidigsten Burschen auch die hübschesten Mädchen mit den aufregendsten Körperformen‹; selbst politische Gegner sprachen angesichts der Anziehungskraft der Rexisten von ›Rex-Appeal‹.

Schon ein flüchtiger Blick auf die Weltanschauungskämpfe des 20. Jahrhunderts und insbesondere auf die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und den revolutionären europäischen Nationalismen zeigt schnell, daß diese Kämpfe eben auch Symbol-, Stil- und Mythenkämpfe waren. Teilweise versuchten sogar einzelne Bewegungen besonders wirkmächtige Symbole, Stile und Mythen des politischen Gegners für sich zu vereinnahmen, und das zum Teil erfolgreich. Bekanntermaßen hat Adolf Hitler die Nutzung der Farbe Rot in der Hakenkreuzfahne von der roten Fahne des Kommunismus abgeschaut, um auf diese Weise die Arbeiterschaft zu gewinnen. Die Nutzung von Schalmaienkapellen, ein bekanntes Instrument kommunistischer Aufmärsche und insbesondere des Rotfrontkämpferbundes, durch die Berliner SA aus ähnlichen Gründen verdeutlicht dasselbe im Kleineren, während umgekehrt die KPD durch einen betont nationalkommunistischen Kurs eine Zeit lang versuchte, ehemalige Freikorpssoldaten und andere Aktivisten des radikalen Nationalismus für sich zu gewinnen. Dieser Versuch gipfelte in einer Rede des KPD-Funktionärs Karl Radek, der sich um eine Gewinnung des Mythos um den von den französischen Besatzern hingerichteten Nationalisten Albert Leo Schlageter zugunsten des Kommunismus bemühte.

Im Gegensatz dazu erwies sich das Auftreten moderner nationalistischer Gruppen oftmals mehr als schädlich denn als nützlich. Die Macht der Bilder wurde meist nicht nur nicht positiv genutzt, sondern man hat den politischen Gegnern sogar die Möglichkeit gelassen, diese gegen einen selber einzusetzen. Die meisten abschreckenden Bilder, mit denen die Presse und politischen Gegner gegen den Nationalismus gearbeitet haben, wurden nicht gestellt, sondern sind Originalaufnahmen, die die ›nationale Bewegung‹ selber lieferte! Zudem waren in der Propagandaarbeit meist Personen tätig, die nicht umfangreich über die Möglichkeiten von Video- und Fotografie geschult waren – was weniger den Aktivisten als vielmehr den politischen Organisationen anzulasten ist.

Die durchschlagende Wirkung, die die Videos der ›Unsterblichen‹ erzielten, zeigt, welches Potenzial in dieser Arbeit steckt. Eine ansprechende Ästhetik, professioneller Schnitt und ein eigener neuer Stil verhalfen den Videos zu einer außergewöhnlichen Reichweite und einem nachhaltigen Erfolg. Vor allem hatten die ›Unsterblichen‹ in wenigen aufeinander abgestimmten Videos bereits die ersten Ansätze zu einem neuen, unverkennbaren Stil geschaffen. Die weiße Theatermaske als ›corporate identity‹ wird bis heute von vielen Aktivisten sofort wieder erkannt und positiv mit den ›Unsterblichen‹ verknüpft.

Dies ist jedoch, insgesamt gesehen, eine Ausnahme. Seien es die Kleidung, die Propaganda oder das öffentliche Auftreten, vielerorts sucht man Wiedererkennungswerte, einen bestimmten Stil und eine eigene Ästhetik vergebens, und wo man sie einmal findet, wurden sie selten langfristig eingehalten und daher selten nachhaltig geprägt.

Die revolutionäre Bewegung der Zukunft hat daher zusammengefaßt folgende Aufgaben: die Schaffung eines neuen Mythos, verbunden mit der Abwendung von veralteten Begriffen, die Hervorbringung eines eigenen neuen Stils sowie die Ausrichtung der Propaganda nicht auf Fakten und die reine Abbildung des Geschehens, sondern auf eine emotionalisierende Ästhetik.

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Beitragsbild: https://www.casapounditalia.org/casapound/
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